Leitartikel

Es wird wehtun, aber es muss sein

Aus ff 05 vom Donnerstag, den 03. Februar 2022

Zitat
 

Die katholische Kirche in Südtirol hat die Pflicht, den sexuellen Missbrauch in ihren Reihen aufzuklären. Nur Aufklärung hilft den Opfern. Dafür muss die Kirche freilich auch sich selber radikal verändern.

Bischof Ivo Muser ist ein vorsichtiger Mann. Er kann gut reden. Und was er noch besser kann: konkrete Aussagen vermeiden. Entschiedenes Vorgehen ist seine Sache nicht. Und wenn es heikel wird, verschanzt er sich hinter den Lehren der Kirche. So ist es, wenn es um Frauen als Priesterinnen geht. So ist es, wenn es um Homosexualität geht. So ist es, wenn es um den Zölibat geht, dem sich die Geistlichen der katholischen Kirche unterwerfen müssen. Wenn es um Sexualität geht, ist es eine Kirche der Scheinheiligen. Ja nicht über homosexuelle Geistliche oder über Geistliche, die eine Beziehung leben, reden. Alles lieber diskret und leise regeln.

Der Bischof will und will doch nicht. So ist es auch bei der Aufarbeitung von sexuellem Missbrauch in der Kirche in Südtirol. Es gibt zwar die diözesane Ombudsstelle für innerkirchlichen Missbrauch, aber einer umfassenden Studie zu Missbrauch in der Kirche hat der Bischof nur zögerlich zugestimmt. Zudem ist das Wie dieser Studie noch völlig unklar. Sicher ist, sie kann nicht von denen bestimmt werden, die bisher gar nicht oder nur halbherzig aufklären wollten.

Umfassende Aufklärung hat das Potenzial, die Kirche in ihren Grundfesten zu erschüttern. So wie das Dossier, das die Diözese München und Freising in Auftrag gegeben hat. Es dokumentiert die Geschichte von 497 Menschen, die Opfer sexueller Gewalt wurden. Es belegt das Generalversagen der Kleriker und belastet auch den früheren Papst Benedikt XVI. schwer. Joseph Ratzinger versuchte, mit gefinkelten Verweisen auf das Kirchenrecht seine Verantwortung kleinzureden.

Die italienische und die Südtiroler Kirche hatte bisher nicht den Mut zu einem solchen radikalen Schritt wie die deutsche Kirche. Es würde eine Umkehr (umkehren, das wäre wirklich katholisch!) erfordern, eine Abkehr von der Tendenz, die Täter zu schützen und nicht die Opfer. Die Opfer haben ein Recht auf finanzielle Entschädigung, aber was ihnen wirklich hilft, ist volle Aufklärung, und dass ihr Leid ernst genommen wird. Und viele fühlen sich nicht ernst genommen. Sie haben nicht den Eindruck, dass die Kirche ihre Gefühle wichtig nimmt, dass sie offen reden können.

Bis vor nicht allzu langer Zeit wurden Pfarrer, die des sexuellen Missbrauchs überführt wurden, nicht suspendiert, sondern nur versetzt. Das machte die Opfer noch einmal zu Opfern. Ein hoher Geistlicher, der des Besitzes von Kinderpornographie überführt wurde – das Verfahren wurde wegen Verjährung eingestellt – darf etwa wieder predigen.

100 Fälle seit 2010. So viele Fälle von Missbrauch wurden der diözesanen Ombudsstelle für innerkirchlichen Missbrauch in den vergangenen 12 Jahren gemeldet. Und es gibt eine hohe Dunkelziffer. Das vermutet zumindest Gottfried Ugolini, der Mann, der in der Diözese Bozen-Brixen den Dienst für den Schutz von Minderjährigen und schutzbedürftigen Personen leitet. Diese Menschen müssen allein mit dem zurechtkommen, was ihnen angetan wurde. Was haben die seelischen Verletzungen, die ihnen zugefügt wurden, aus ihnen gemacht?

Es hilft nur Transparenz. Das ist für die Kirche mit ihrer monarchischen Struktur schwer. Ihre Würdenträger warten auf Anweisung von oben, denunzieren Aufklärung als Verschwörung gegen die heilige Kirche und neigen dazu, Vorkommnisse unter den Teppich zu kehren. Es ist eine Parallelwelt. Lieber schweigen als aufklären, um der Institution ja nicht zu schaden. Darüber verliert die katholische Kirche noch mehr an Glaubwürdigkeit. Sie ist kein Bezugspunkt mehr in einer Welt, die Orientierung bitter nötig hat.

Also keine Ausreden mehr. Kein Vertuschen. Kein Kleinreden. Wenn sich die Kirche den Dingen nicht stellt, sexuellen Missbrauch nicht unabhängig aufklären lässt, macht sie es nur noch schlimmer. Vor allem für die Opfer. Aber auch für sich selber. Die Kirche in Südtirol muss sich ihrer Verantwortung stellen. Es wird nicht angenehm werden, aber es geht nicht anders.

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