Leitartikel

Nachhaltig ist das Nichts

Aus ff 23 vom Donnerstag, den 09. Juni 2022

Zitat
 

Ein trendiger Slogan ist inzwischen zu einer Keule mutiert, die jede Diskussion frühzeitig beendet. Über eine Falle, die wir uns selbst gestellt haben.

Wenn eine Schule aus allen Nähten platzt, wird sie vergrößert. Wenn ein Krankenhaus aus allen Nähten platzt, wird es vergrößert. Wenn Wohnungen fehlen, werden Wohnungen gebaut. Selbstverständlich.

Diese Selbstverständlichkeit, nachzurüsten und auszubauen, wenn Bedarf besteht, gilt mittlerweile nicht für alle Bereiche. Sie gilt nicht für die Autobahn. Wenn die A22 nicht mehr in der Lage ist, den Verkehr zu bewältigen, wird sie nicht ausgebaut, verbreitert oder – was weiß ich – verdoppelt. Diese Autobahn ist anscheinend in Stein gemeißelt – für alle Zeit.

Hier gilt: Nicht die Struktur muss sich den Bedürfnissen anpassen, sondern die Bedürfnisse an die Struktur. „Wir können nicht jedem garantieren, dass er jederzeit von A nach B kommt.“ Das sagte Hartmann Reichhalter, seines Zeichens Präsident der A22. Die Nutzer müssten „sensibilisiert“ werden. Denkbar wäre „ein Reservierungssystem“. Will heißen: Um die Autobahn zu benutzen, müsste ich um einen Termin ansuchen. Ist gerade kein Slot frei, habe ich eben zu Hause zu bleiben.

Warum redet ein Autobahnpräsident so? Vor nicht allzu langer Zeit hätte er die Politik aufgefordert, diese Verkehrsachse – die wichtigste zwischen Mittel- und Südeuropa – den Mobilitätserfordernissen anzupassen. Die vor 70 Jahren gebaute A22 kann nicht in der Lage sein, den Verkehr über den Brenner zu schlucken. Da hilft keine Propaganda von wegen Green-Korridor (sic!), keine dynamische dritte Spur, kein gar nichts. Zu viele Fahrzeuge auf zu wenig Straße bedeuten: Stau.

Ich vermute, Reichhalter wollte „etwas Nachhaltiges“ sagen. Ja er musste „etwas Nachhaltiges“ sagen. Weil heutzutage alle „etwas Nachhaltiges“ sagen müssen. Ein PR-Spezialist hat mir verraten, dass in jedem Absatz zumindest einmal das Adjektiv „nachhaltig“ vorkommen muss.

Als vor Kurzem die Idee auftauchte, im Seiseralm-Gebiet nicht nur eine Seilbahn zu errichten, sondern auch eine Rodelbahn, brandete kollektive Entrüstung auf. Eine Rodelbahn sei heutzutage „nicht nachhaltig“. Gemeint war nicht eine betonierte Kunstbahn, nein, ein einfacher Rodelweg, über den Mami, Papi und Kinder den Berg runterrutschen können. Früher eine tolle Einrichtung, eine Selbstverständlichkeit. Heutzutage eine Zumutung – weil „nicht nachhaltig“.

Was ist dann „nachhaltig“? Die Antwort lieferte Klaus Egger auf Rai Südtirol. Der Mann ist „Sonderbeauftragter für Nachhaltigkeit des Landeshauptmanns Arno Kompatscher“. Er muss es also wissen. Egger forderte, wie könnte es anders sein, Maßnahmen, Gesetze, Projekte, die „nachhaltig“ sind. Wegen des Klimas und so weiter. Bis dahin konnte ich folgen. Aber dann packte er die Keule aus: „Denn derzeit ist gar nichts nachhaltig.“

Ich weiß nicht, ob es Egger bewusst ist, dass er mit diesem Satz seinem Chef, dem Landeshauptmann, eine Watschn verpasst hat. Jedenfalls verstand ich jetzt den armen Reichhalter: Eine Autobahn kann nicht nachhaltig sein. Auch Olympia kann es nicht sein. Die Beteuerungen, die Spiele 2026 würden „nachhaltig“ sein: Bullshit. Alles, was wir tun und bauen, ist das Gegenteil von nachhaltig.

Der Begriff „Nachhaltigkeit“ ist ungenau, missverständlich, nichtssagend? Völlig egal. Der trendige Slogan ist längst zum Totschlagargument mutiert. Was bleibt dem Präsidenten einer Autobahn zu tun? Nun ja, er kann bloß Dinge sagen, die zwar an der Situation nichts ändern, die aber irgendwie „nachhaltig“ klingen. Dabei wissen alle nur zu gut, was getan werden müsste. Sie trauen sich aber nicht mal, es laut zu denken.

Nichts ist nachhaltig? Zu Ende gedacht bedeutet es: Nachhaltig ist das Nichts.

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