Leitartikel

Landesüblicher Unfug

Aus ff 17 vom Donnerstag, den 27. April 2023

Zitat
 

Die Schützen zündeln wieder – und nehmen den Landeshauptmann ins Visier. Wie verrückt das ist, zeigt ein Besuch in Belfast.

Je nach Sichtweise kann man es so oder eben ganz anders empfinden. Für unsere Schützen liegt Südtirol heute noch in Ketten: ein entrechtetes Land, ausgeliefert den italienischen Besatzern. Für die Schützen sind all jene Verräter, die „den Widersachern von gestern und heute“ die Hand reichen.

Die Schützen haben sich erst im vergangenen Juni – am Tag der Autonomie – geweigert, einen landesüblichen Empfang abzuhalten, weil ein italienischer Minister anwesend war. „Für unsere Besatzer machen wir das nicht,“ begründete Oberschütze Roland Seppi die Absage. Die Botschaft galt vor allem Arno Kompatscher: Der Landeshauptmann ist ein Verräter, weil er nicht nur österreichische, sondern auch italienische Politiker zum Festakt geladen hatte.

Man muss nicht die Sichtweise der „Besatzer“ übernehmen, um das Benehmen der Schützen als flegelhaft zu empfinden. Man muss nur mal – zum Beispiel – nach Nordirland gehen. Dort lässt sich erahnen, was aus Südtirol hätte werden können: ein Schlachtfeld.

Nordirland ist ein wunderschönes Land, mit sattgrünen Wiesen und vielen Schafen. Dann steht man – mitten in der Hauptstadt Belfast – vor einem acht Meter hohen Stacheldrahtzaun. Er trennt das katholische Viertel vom protestantischen. Viele der Häuser, die sich unmittelbar neben dieser Art von Berliner Mauer befinden, haben Eisengitter vor den Fassaden: um sich gegen Wurfgeschosse, Molotowcocktails und Bomben zu schützen, die „der Feind“ – Seppi würde sagen: der Besatzer –
über den Zaun schleudern könnte.

Die Zäune und Mauern kreuz und quer durch diesen Stadtteil sind über 20 Kilometer lang. Mit der Errichtung dieser „Friedenslinien“ – ja, so nennt man sie tatsächlich – wurde 1969 begonnen. Es gibt sie heute noch. Wie auch Sperren, die ganze Straßenzüge abriegeln: Nach Einbruch der Dunkelheit darf hier niemand mehr durch. Ausgangssperre – wie im Krieg.

Im Viertel der Protestanten werden die Fotos der protestantischen Märtyrer gezeigt und die Fotos der katholischen Täter, die als Mörder und Terroristen bezeichnet werden. Im Viertel der Katholiken ist es genau umgekehrt. In Belfast ist die Lage aktuell ruhig, es wird nicht geschossen, Bomben werden keine gelegt. Aber wer mit den Menschen dort spricht, traut der Ruhe nicht: Es braucht nicht viel, und der Irrsinn, der zwischen 1969 und 2001 rund 3.500 Menschen das Leben kostete, bricht wieder aus.

Ich hätte die Dolomiten-Artikel an diesem Montag über die Schützen vermutlich gar nicht gelesen. Aber zurück aus Belfast ist mich das Thema – das hier wie dort dasselbe ist – angesprungen. Und ich sagte mir: Ist es denn möglich?

In Nordirland kann man lernen, was aus einem Land wird, das nicht das Glück hatte, einen Silvius Magnago zu haben. Wie würde Südtirol heute aussehen, wenn es nicht auf den weisen Magnago, sondern auf Mander wie Georg Klotz gehört hätte? Oder wenn Italien ähnlich brutal in den Konflikt eingegriffen hätte wie die britische Armee?

Lieber Roland Seppi: Ich lege Ihnen einen Besuch in Belfast ans Herz. Wegen der anderen Sichtweise. Ich denke, nach Ihrer Rückkehr zünden Sie am Grab Magnagos eine Kerze an. Und vermeiden es in Zukunft, den landesüblichen Empfang für politischen Unfug zu missbrauchen.

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