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Leitartikel
Arbeiterschaft ohne Lobby
Aus ff 19 vom Donnerstag, den 11. Mai 2023
Arm zu sein ist gerade ziemlich uncool. Deswegen müssen wir die soziale Gleichheit und das Gemeinwohl wieder in den Vordergrund stellen. Dringend.
Die Feier zum 1. Mai des Autonomen Südtiroler Gewerkschaftsbunds in Völs stand unter dem Motto: „Lohn- und Rentenerhöhungen sofort“. ASGB-Chef Tony Tschenett sagte: „Ein würdiges Auskommen mit dem Einkommen ist für viele nicht mehr möglich.“ Alle Gewerkschaften sind dieser Ansicht: Die Löhne müssten erhöht werden, sonst driften immer mehr Menschen in die Armut ab. Trotz Arbeit.
Vor einigen Jahrzehnten hätten dieser Tatbestand und die Forderungen der Gewerkschaften zu Streiks, zu kontroversen Debatten und schlussendlich zu Lohnerhöhungen geführt. Heute ist dem nicht mehr so. Selbst das Land, das sich bei Löhnen sonst gerne auf die Schultern klopft, sagt sorry: Das Geld reiche nicht für größere Sprünge.
Das wirft Fragen auf: Was ist aus den Lobbys für die Arbeiterschaft geworden? Wie viel Macht haben die Gewerkschaften noch? Und was ist los mit der Politik – gab es da nicht einmal die Arbeitnehmer in der SVP, quasi das soziale Gewissen der Regierungspartei? Dieses Gewissen gibt es mittlerweile nicht mehr. Der ehemalige SVP-Arbeitnehmer Hans Widmann erklärte vor einigen Wochen gegenüber diesem Magazin: Die heutige Führung des linken Parteiflügels wolle lieber „anschmiegsam“ und „sanft“ im Hintergrund arbeiten. Das aber bringe nichts.
Widmann hat mit seiner Analyse recht: Wer lieber still ist und Forderungen zaghaft vorbringt, wird gerne überhört. Den Lauten gehört die Welt, zumal die virtuelle. Meinungen stehen hier neben Fakten, alles wird eingeebnet und angeglichen. Die glasklare Analyse der Nobelpreisträgerin zählt gleich viel wie die zorntriefende Ausdünstung des wütenden Nachbarn.
An das Gemeinwohl denken hier nur mehr wenige. Vielmehr geht es um das Meinwohl: Hauptsache mir geht es gut, der Rest ist mir egal. Dabei ist das Gemeinwohl ein wichtiger Pfeiler unserer Gesellschaft. Politisch gesehen ist es eher links der Mitte angesiedelt. Links bedeutet, dass mehr soziale und politische Gleichheit angestrebt wird – manches Mal auf Kosten individueller Freiheit. Rechts bedeutet, dass individuelle Freiheiten wichtiger sind – manches Mal auf Kosten des Kollektivs.
Soziale Gleichheit und mehr Gemeinwohl, damit lässt sich heute kein Blumentopf mehr gewinnen. Arm zu sein ist gerade ziemlich uncool. Jugendliche bezeichnen einander als „Geringverdiener“, wenn sie das Gegenüber beschimpfen wollen. Geringverdiener – haben weder in der wirklichen Welt noch in den sozialen Medien etwas verloren. Der Romanautor Christian Baron beschrieb die Lage jüngst treffend: „Links klickt nicht.“ Baron meint damit die twitternde und facebookende Stadtbevölkerung, die sich allem Möglichen widmet: den Klimaklebern, dem Gendern oder alten weißen Männern – nicht aber der Lebenswirklichkeit der unteren Schichten. Das sei kein Zufall, sondern habe System.
Die unteren Schichten, das sind zumeist Menschen, die für uns jene Arbeiten erledigen, für die wir selbst uns zu schade geworden sind. Straßen kehren, Betten aufschütteln oder am Fließband stehen, das dürfen gerne die „anderen“, die Zugewanderten. Das hat einen praktischen Nutzen: Ihre Arbeit darf billig bleiben, sind ja nicht unsere Leute.
Doch wir übersehen die Konflikte, die damit heraufbeschworen werden. Denn ewig werden sich die Geringverdienenden das nicht gefallen lassen. Deshalb ist es dringend geboten, die soziale Gleichheit und das Gemeinwohl wieder in den Vordergrund zu stellen. Sonst wird es mit dem ohnehin wackeligen gesellschaftlichen Frieden bald vorbei sein.
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