Sommergespräch in ff 37/18 mit dem jungen Pakistaner Saad Khan, der seit 12 Jahren auf dem Brenner lebt
Politik
Für uns, gegen die
Aus ff 41 vom Donnerstag, den 11. Oktober 2018
Migration ist eines der wichtigsten Themen im Wahlkampf. Wie die Parteien Zuwanderung regeln wollen. Aber haben sie auch einen Plan jenseits billiger Slogans?
Glaubt man dem Eurobarometer, ist Zuwanderung derzeit das wichtigste Thema für uns Europäer. Im Wahlkampf für die Landtagswahlen versprechen uns die Parteien, die Zuwanderung zu regeln. Was heißt das aber genau? Wie können wir hinter die Fassade dieser Versprechung blicken, um eine gut begründete Entscheidung zu treffen – auf der Grundlage von Informationen und nicht von Wahlplakaten, Radiowerbungen oder der Geschenke, die uns die diversen Parteien derzeit immer wieder mal überreichen.
Was bekommen wir zu sehen und zu hören, wenn es um Zuwanderung geht? Das Plakat von Casapound mit dem Aufruf „Südtirol reinigen“ etwa, das weit unter die Gürtellinie geht. Einen ebenso wenig akzeptablen Vergleich von Menschen mit Parasiten wie im Radiospot von Reinhard Zublasing (SVP).
Als Politikwissenschaftlerin stütze ich mich lieber auf einen ausformulierten Text, ein Manifest: das Wahlprogramm. Ich untersuche es, wenn ich wissen will, welches Gewicht das Thema Migration in der Partei einnimmt, ich verwende es, um Vergleiche zwischen Parteien vorzunehmen oder die Entwicklung der Parteiposition über Jahre hinweg nachzuzeichnen.
Doch wie viele Menschen gibt es, die sich die Wahlprogramme der Parteien anschauen, bevor sie am 21. Oktober ihr Kreuzchen machen? Ich habe in meinem Bekanntenkreis herumgefragt und, meine Arbeitskolleginnen und -kollegen ausgenommen, niemanden gefunden, der ein Parteiprogramm auch nur durchgeblättert hätte!
Ein Parteiprogramm ist erstens die Vision der Partei für die Zukunft. Also ein langfristiger Plan, zumindest für die nächsten fünf Jahre, und nicht nur eine spontane Reaktion auf das, was gerade passiert. Zweitens ist es ein Gemeinschaftsprodukt.
Es ist nicht die persönliche, vielleicht auch radikale Meinung einer Kandidatin oder eines Kandidaten, sondern eine überlegte und entwickelte Grundposition, an welche die einzelnen Kandidaten zumindest theoretisch gebunden sind. Drittens ist es der moralische Vertrag, den die Parteien mit ihren Wählern abschließen und dessen Umsetzung die Wähler einfordern könnten oder an dessen Umsetzung die Partei zumindest gemessen werden kann.
Viertens erscheint das Programm regelmäßig, zu jedem Wahlkampf, und ermöglicht somit, die Entwicklung – oder Nicht-entwicklung – einer Partei nachzuverfolgen. Und zu guter Letzt ist es auch ein Sich-Präsentieren, den Wählern, aber auch den anderen Parteien: Mit wem gibt es Überschneidungen über die Floskeln von „unkontrollierte Zuwanderung begrenzen“ und „unsere Regeln einhalten“ hinaus, die wir bei den meisten Parteien finden? Mit wem kann man zusammenarbeiten?
Obwohl Matteo Salvini von fast nichts anderem zu reden scheint, so geht es nur in 5 Prozent des Wahlprogramms der Lega – in 1.750 von 34.500 Wörtern – um Kontrolle der Zuwanderung, Stärkung der EU-Außengrenzen, Ausweisung von Ausländern. ... Ähnlich in Südtirol: Wenn man zählen würde, wie oft die Parteien oder einzelne Kandidaten über Zuwanderung reden, dann möchte man glauben, dass es das Wichtigste oder zumindest das zweitwichtigste Thema nach Sanität und Doppelpass ist.
Die Wahlprogramme hingegen sind eher gemäßigt, sowohl in der Gewichtung als auch in der Art, das Thema zu bearbeiten: Die Freiheitlichen waren schon immer die (Anti-)Immigrationspartei, 10 Prozent ihres Wahlprogrammes widmen sie dem Thema, 9 Prozent das Team Köllensperger, gefolgt von der
Südtiroler Freiheit (7), den Grünen (6), der SVP (4,5) und der Bürgerunion (3,5).
Warum ich nichts über die anderen Parteien, die lokalen Ableger von Partito Democratico, Forza Italia, Casapound, Fratelli d’Italia, und auch nichts über die Vereinte Linke und Für Südtirol schreibe? Im Wahlprogramm des PD redet man nicht über Zuwanderung. Und von den anderen Parteien gibt es immer noch keine Wahlprogramme, die öffentlich zugänglich wären.
Woher kommt diese unterschiedliche Gewichtung zwischen Wort und Schrift, wenn über Zuwanderung geredet wird? Mit dem Thema kann man derzeit viel Staub aufwirbeln und von den wahren Problemen ablenken. Es ist leichter, jene Menschen zum Sündenbock zu machen, die man bei der nächsten Wahl nicht fürchten muss. Ausländer, Asylsuchende, Flüchtlinge, all jene, die (noch) nicht die italienische Staatsbürgerschaft haben, obwohl sie schon seit Jahren hier wohnen, arbeiten und Steuern zahlen, haben keine Stimme. Weder für das italienische Parlament, noch für den Südtiroler Landtag.
Wenn die Parteien, die Grünen zum Teil ausgenommen, über Zuwanderung reden, dann versprechen sie nicht, etwas für Ausländer zu tun, so wie für Senioren, Jugendliche, Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen oder für Familien. Die Parteien reden darüber, was sie gegen Migranten tun wollen. Zuwanderung ist also ein Punkt in den meisten Wahlprogrammen, um uns zu zeigen, wen die Partei nicht vertritt, wem keine „Wahlzuckerln“ versprochen werden.
Die Kürzung der Sozialleistungen beziehungsweise die Einschränkung des Zugangs dazu für Ausländer ist ja nicht etwas, was die Parteien zum Wohle der Migranten ankündigen, sondern scheinbar zum Wohle von uns Südtirolern. Aber wenn einer weniger bekommt oder es für ihn schwieriger wird, einen Mietbeitrag oder zusätzliches Kindergeld zu bekommen, bekomme ich als als Südtirolerin dann automatisch mehr oder leichter Kindergeld? Nein.
Zuwanderung führt also zwingend dazu, dass wir uns mit uns selbst auseinandersetzen müssen. Das Thema führt uns, auch in diesem Wahlkampf, die Frage vor Augen, wer wir sind, für welche Werte wir einstehen, wer wann zu uns gehört und wer eben nicht. „Wie du die Schwächsten deiner Gesellschaft behandelst, sagt viel darüber aus, wie du selbst bist“, schrieb die Philosophin Hanna Arendt.
Sieht man von den Grünen und dem lokalen Ableger des Partito Democratico einmal ab, so wollen alle, SVP, Bürgerunion, Freiheitliche, Südtiroler Freiheit und Team Köllensperger, Zuwanderung begrenzen und kontrollieren. Begrenzen wollen die Parteien vor allem die Einreise jener Menschen, die ohne Genehmigung und meist über das Meer zu uns kommen und Aufnahme erbitten, da Bürgerkriege, Diktatoren oder Naturkatastrophen das Leben im eigenen Land schwer erträglich machen. Das Ziel lautet: weniger Asylsuchende.
Im Unterschied zu vergangenen Wahlkämpfen wird Zuwanderung vor allem in Zusammenhang mit Asylpolitik diskutiert. Die Freiheitlichen scheinen zu wissen, dass es nur wenig anerkannte Kriegsflüchtlinge und politisch Verfolgte gibt, ihnen gegenüber zeigt sich die Partei solidarisch und hilfsbereit, und für sie sollen Integrationsmaßnahmen und Eingliederung in den Arbeitsmarkt greifen. Und dann gäbe es viele, die kein Recht auf Asyl hätten, und für die es weder ein Bleiberecht, noch Integrationsmaßnahmen oder Sozialleistungen geben sollte. Als ob es so einfach wäre, zu entscheiden, wer Anrecht auf Asyl hat, und wer nicht: Jeder Fall muss einzeln geprüft werden. Und was ist ein sicheres Herkunftsland? Syrien? Ja. Sudan? Nein. Südsudan? Dann doch wieder Ja.
Derzeit (Stand: Ende September) leben etwa 1.450 Asylsuchende in Südtirol, 0,3 Prozent der Südtiroler Bevölkerung. Die meisten von ihnen kommen aus zentralafrikanischen Ländern. Hinzu kommen laut Gemeinde Bozen noch circa 200 Personen, die ohne gültige Dokumente, und auch ohne einen Asylantrag gestellt zu haben, in der Stadt leben.
Wie soll die Beschränkung der Zuwanderung konkret umgesetzt werden? Die Südtiroler Freiheit und die Freiheitlichen wollen die Kompetenzen dafür von Rom übernehmen. Die SVP setzt auf die EU und eine „faire“ Verteilung der Asylsuchenden innerhalb derselben, ebenso in Italien und in Südtirol. Auch das Team Köllensperger glaubt an eine gemeinschaftliche Regelung des Asylrechts innerhalb der EU und ein bisschen auch an Italien. Für die Grünen hingegen soll Zuwanderung nicht durch Begrenzung kontrolliert werden. Sie befürworten humanitäre Korridore für Flüchtende, um Missbrauch und unrechtmäßige und gefährliche Überfahrten über das Meerzu verhindern.
Mit der Kontrolle der Zuwanderung meinen die Parteien wohl auch die Regelung des Zusammenlebens und der Integration auf Basis von gemeinsamen Werten und Regeln. Doch welche Regeln und Werte verbinden uns alle, was macht uns Südtiroler aus? Die Südtiroler Freiheit verweist einfach auf „unsere Lebensweise und Traditionen“, die Bürgerunion auf die „Regeln der angestammten Bevölkerung“ und darauf, dass der Islam nicht zu Südtirol gehört. Die SVP wird ein wenig konkreter: „Demokratische Grundwerte, die geltenden Rechtsnormen, die freie, offene Gesellschaft, die Art und Form des Zusammenlebens, die Akzeptanz unserer Traditionen und Bräuche sowie der christlichen Feiertage und Feste, die Gleichberechtigung von Mann und Frau und die Religionsfreiheit“.
Neben einer Arbeit werden auch das Erlernen der Sprache(n) und das Anpassen an die berühmten Werte oder zumindest der Besuch von Sprach- und Wertekursen von denen, die zu uns kommen, gefordert. Erst dann erhalten Menschen aus dem Nicht-EU-Raum bestimmte Sozialleistungen, wie ja unlängst und gut getimt, von der Landesregierung beschlossen wurde. Unklar bleibt allerdings noch, wie gut man die Sprache können muss, welche Werte vermittelt werden sollen, wer die Kurse organisiert und finanziert.
Die Freiheitlichen haben jahrelange Erfahrung in der Auseinandersetzung mit dem Thema, sodass die Partei in diesem Wahlkampf zwischen unterschiedlichen Kategorien von Migranten differenziert: Abzuschiebende und solche, die man aufnehmen kann. Das wären einerseits die „Südtiroler mit Migrationshintergrund“, die, wenn sie die Landessprachen sprechen und die Eigenheiten des Landes übernommen haben, schon fast wie Einheimische sind, und dementsprechend „eingeladen sind, in unserer Mitte eine neue Heimat zu finden“. Und andererseits ausgebildete Arbeitskräfte aus dem Ausland. Somit will die Partei unsere Werte, die „besondere ethnische Struktur des Landes, die kulturellen Eigenheiten Südtirols, die Bedürfnisse der Südtiroler Wirtschaft und der Sozialstruktur“ schützen.
Auch die Grünen setzen auf Arbeit und Sozialleistungen. Und doch unterscheiden sie sich von den anderen, denn sie wollen den Schutz der sozialen Rechte von einheimischen und auch von ausländischen Arbeitnehmern gewährleisten und den Zugang zu Sozialleistungen nicht an 5 Jahre Ansässigkeit wie die Südtiroler Freiheit, oder an Sprach- und Wertekurse wie die SVP knüpfen, sondern an den Bedarf. Und wie sieht es mit der Sprache aus? Ja, mehrsprachig sollen wir alle sein.
Es ist charakteristisch für ethnoregionale Parteien, also all jenen Parteien, die nur in einer bestimmten Region bei Wahlen antreten, das Verhältnis des eigenen Territoriums zum Staat infrage zu stellen. Sie vertreten eine ethnische Gruppe und verknüpfen Zuwanderung deshalb eng mit Fragen der Identität und deren Erhalt. Deshalb ist Migration auch ein besonders wichtiges und polarisierendes Thema in Minderheitenregionen.
In Katalonien sind sie stolz auf die Geschichte der Region als „terra d’acollida“, als „Willkommensregion“, und versuchen die Zugewanderten für die eigene Sprache und die kulturellen und regionalen Besonderheiten zu begeistern. Die Baskische Nationalpartei weiß, dass das Baskenland klein ist, deswegen sollte es flexibel und offen sein. Und die Schottische Nationalpartei verweist auf den Tartan, den traditionellen schottischen Karostoff. „Wir sind wie unser Tartan. Es gibt viele Farben, viele Muster der schottischen Identität, und migrationsbedingte Vielfalt ist ein wichtiger Teil davon“. Und wie ist es bei uns, mit unserem Dirndl und unserer Lederhose?
Verena Wisthaler
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