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Politik
Hart an der Grenze
Aus ff 11 vom Donnerstag, den 12. März 2020
Das Abendland verliert seine Zivilisation, sagt Andreas Pfeifer. Ein Gastkommentar.
Jetzt ist das migrationspolitische Mantra wieder in aller Munde: „2015 darf sich nicht wiederholen“, sagt Viktor Orban, sagt Sebastian Kurz, sagt Matteo Salvini, sagt Angela Merkel, sagt Ursula von der Leyen. Sie wiederholen diesen Satz, während an der griechisch-türkischen Grenze 13.000 Menschen von der Polizei hin- und hergeschoben, niedergeschlagen oder beschossen werden, während im Lager Moria auf der Insel Lesbos – als Übergangsunterkunft für 2.800 Menschen errichtet – 22.000 Männer, Frauen und Kinder seit zwei Jahren ihr jämmerliches Dasein fristen, während in der syrischen Provinz Idlib 950.000 Menschen den syrisch-russischen Bombenhagel und jetzt den Winter überleben müssen.
Auf der Flucht vor der politischen Verantwortung und ihrem humanitären Versagen brauchen die christlich-sozialen Politiker nun einmal auch ihre Stoßgebete: „Der Schutz der Außengrenzen ist unverzichtbar.“ Noch so ein Satz, der das mittlerweile gut befestigte Abendland in Sicherheit wiegen soll, noch so ein Satz, der seit 2015 unablässig wiederholt wird. Was sich nicht wiederholt, sind die befristeten Öffnungen der Grenzen, die Zeichen der Mitmenschlichkeit an den Bahnhöfen, das Durchwinken in ein neues Leben.
Man hat gelernt, dass man den Kriegen, der Vertreibung, den terroristischen und islamistischen Gefährdungen nicht mit einer naiven Willkommenskultur begegnen kann. Der Kontrollverlust an den Grenzen hat die westlichen demokratischen Gesellschaften schwer durcheinandergerüttelt, mit dem „Feindbild Flüchtling“ haben die Rechtspopulisten in der Folge zunächst die Traditionen der Menschenfreundlichkeit, dann das Gefüge der Menschenrechte untergraben. „Zuerst die Ordnung, dann die Humanität“, sagt Deutschlands Innenminister Horst Seehofer. Damit erklärt er auch, warum die Humanität noch warten muss. Die ordnungspolitischen Konsequenzen, die man aus den Ereignissen des Jahres 2015 ziehen wollte, sind ausgeblieben.
Aus der „gemeinsamen Lösung“ der EU ist nichts geworden, nichts aus dem Verteilungsschlüssel für Flüchtlinge und Migranten, nichts aus der Asylreform, nichts aus der gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik für Syrien und den Nahen Osten, nichts aus der Bekämpfung der Fluchtursachen. Gestärkt wurden lediglich die Reflexe der Abwehr, der Abschiebung, der Abschottung. Das ließ man sich immerhin einiges kosten, sechs Milliarden Euro hat die EU in den Flüchtlingspakt mit der Türkei investiert. Man wollte dafür sorgen, dass die Fliehenden jenseits der Außengrenzen bleiben, man wollte Zeit gewinnen. Der Deal hat – eine Zeit lang – funktioniert. Doch weil die EU die gewonnene Zeit nur mit Zusehen zugebracht hat, ist nun auch der Preis der Abhängigkeit von despotischen Kriegsherren zu bezahlen. Man sah zu, wie der syrische Präsident Assad die Rückeroberung von Idlib mit grenzenloser Brutalität betreibt.
Man sah zu, wie der russische Präsident Putin ihn mit Bombardements aus der Luft unterstützt. Man sah zu, wie der türkische Präsident Erdogan, dessen Land bereits 3,5 Millionen Flüchtlinge beheimatet, seine Territorialgelüste in Nordsyrien befriedigt und damit weitere Menschen in die Flucht treibt.
Man sieht aber nicht mehr zu, seit Erdogan Flüchtlinge an die griechische Grenze karrt. Jetzt wird zurückgeschoben und zurückgeschossen. „Griechenland ist der Schild Europas“ sagt Ursula von der Leyen. Nun fließt wieder einiges Geld.
700 Millionen Euro investiert die EU in den griechischen Grenzschutz. 100 Millionen Euro gibt Deutschland für die Flüchtlingshilfe in Idlib. In Österreich ist die Aktion „Nachbar in Not“ angelaufen. Die Bevölkerung spendet, die Bundesregierung verspricht, die Spenden zu verdoppeln. In Europa wird nun debattiert, ob man Frauen und Kinder aus den Flüchtlingslagern holen soll. Das Thema ist umstritten. Deutschland will 1.500 unbegleitete oder kranke Minderjährige aufnehmen, Österreichs Kanzler Kurz sagt Nein. Er will verhindern, dass hunderttausende Menschen „Lust zu fliehen“ bekommen. Unterdessen ist Präsident Erdogan nach Brüssel gereist. Die EU-Kommission will mit ihm über eine Neuauflage des Flüchtlingspaktes verhandeln. Die Gespräche verlaufen konstruktiv, heißt es, aber man wird sich „nicht erpressen lassen“ sagt die Kommissionspräsidentin.
Es wird noch viel Geld fließen. Nicht genug allerdings, um den Zivilisationsverlust des Abendlandes auszugleichen. An der griechisch-türkischen Grenze sind noch immer Tränengas und Schlagstöcke im Einsatz. Neben Polizisten und Soldaten sind auch einige Baufahrzeuge angerückt. Sie werden den Stacheldrahtzaun reparieren und verstärken. „Der Schutz der Außengrenze ist unverzichtbar“, sagt Ministerpräsident Kyriakos Mitsotakis. Zuerst die Ordnung – die Humanität muss noch eine Weile warten.
Andreas Pfeifer, 55, stammt aus Bozen und leitet seit 2007 das Ressort Außenpolitik im ORF.
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