Politik

Corona-Demokratie

Aus ff 13 vom Donnerstag, den 26. März 2020

Militär
Militär kontrolliert Ausgangsbeschränkungen: Ist die Demokratie für den Notfall gerüstet? © Tiziana Fabi/AFP
 

Italien im Ausnahmezustand: Werden unter dem Deckmantel von Notverordnungen die Grundrechte ausgehöhlt? Eine Analyse des Politologen Günther Pallaver.

Ist die Demokratie für einen Notfall wie die Covid-19-Pandemie gerüstet? Verfassungsjuristen diskutieren über Ausnahmegesetze, Vertreter von Menschenrechtsorganisationen warnen hingegen vor der Aushöhlung der Grund- und Menschenrechte, Bürgerrechtsbewegungen verweisen auf die schleichende Militarisierung der Gesellschaft.

Ausgangssperren würden gegen das Grundrecht der Bewegungs- und Niederlassungsfreiheit verstoßen, somit gegen die Freiheit der Person, gegen das Versammlungsrecht. Die Sammlung von Daten zu Zwecken des „contact tracing“, der Nachzeichnung unserer Bewegungen, gegen das Recht auf Privatsphäre.

Die Schließung von Betrieben gegen die Berufsfreiheit, jene der Schulen und Universitäten gegen das Recht auf Bildung (wenngleich der Bildungsauftrag online weitergeführt wird). Das Verbot von Zusammenkünften verletze die Religionsfreiheit.

Viele Verfassungen, nicht nur in Europa, sind für einen inneren Notstand nicht gerüstet, wenngleich es eine allgemeine Grundregel gibt: -Staatliche Eingriffe in die Grundrechte und somit in die Privatsphäre müssen immer rechtmäßig sein. Das bedeutet, es braucht dafür eine gesetzliche Grundlage, der Eingriff muss im öffentlichen Interesse stehen, verhältnismäßig und zeitlich limitiert sein.

Im der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) heißt es: „Wird das Leben der Nation durch Krieg oder einen anderen öffentlichen Notstand bedroht, kann jede Hohe Vertragspartei Maßnahmen treffen, die von den in dieser Konvention vorgesehenen Verpflichtungen abweichen, jedoch nur, soweit es die Lage unbedingt erfordert und wenn die Maßnahmen nicht in Widerspruch zu den sonstigen völkerrechtlichen Verpflichtungen der Vertragspartei stehen.“

Alle, die der EMRK beigetreten sind, müssen, wenn sie vom Recht auf Abweichung von der Konvention Gebrauch machen, den Generalsekretär des Europarats über die getroffenen Maßnahmen, deren Gründe und deren Dauer unterrichten.

Ausnahmen sind nur erlaubt, „soweit es die Lage unbedingt erfordert“. Zudem gibt es eine Warnfunktion, die Informationspflicht gegenüber der Bevölkerung. Sie muss umfassend informiert und aufgeklärt werden, dass es sich um einen Ausnahmezustand handelt und die Einschränkung ihrer Rechte außerordentlich und nur vorübergehend ist.

Das alles trifft aktuell auf Italien zu. Die Maßnahmenpakete der Regierung schränken mit dem Verweis auf die Notstandssituation eine Reihe von Grundrechten ein oder heben sie ganz auf.

Diese Notstandsmaßnahmen basieren, rein formal betrachtet, auf dem Legislativdekret zum Zivilschutz (2018), das die Ausrufung des Notstands erlaubt. Es ist das erste Mal, dass die Schutzbestimmungen ganz Italien und die gesamte Bevölkerung betreffen.

Weil das öffentliche Interesse an einer Eingrenzung der Coronapandemie außerordentlich hoch ist, sind weitgehende Beschränkungen der Freiheitsrechte zulässig. Dennoch: Sind Verfassung, Grundrechte, Bestimmungen der EMRK respektiert worden?

Im Mittelpunkt steht die Gesundheit. Liegt der Schutz der Gesundheit auf der Skala der schützenswerten Güter in der Verfassung ganz oben? Ja, Gesundheit ist eine der Grundvoraussetzungen, um bürgerliche Rechte überhaupt ausüben zu können. Gesundheit ist die Grundvoraussetzung für eine aktive Rolle in der Gesellschaft, bei der Arbeit, im sozialen, kulturellen und natürlich auch im politischen Leben.

Daraus ergibt sich folgerichtig die Notwendigkeit eines effizienten und öffentlichen Gesundheitswesens, das freilich in den letzten Jahrzehnten finanziell ausgehungert wurde. Wer vor der Covid-19-Krise das Heil im Privaten sehen wollte, ruft jetzt verzweifelt nach dem Staat. Wir werden sehen, wie die USA mit der Pandemie zurecht kommen werden, ohne öffentliches Gesundheitswesen.

Keine Frage, die verfassungsmäßige Ordnung gilt nach wie vor. Was aber in den letzten Wochen sichtbar wurde, ist die Verschiebung der Entscheidungspolitik von der Legislative hin zur Exekutive, vom Parlament zur Regierung. Das betrifft die Gesetzesdekrete der Regierung Conte, die vom Parlament diskussionslos durchgewinkt werden.

Das betrifft die Notverordnungen von Landeshauptmann Arno Kompatscher, die zum Teil restriktiver als die gesamtstaatlichen Vorschriften sind, denken wir etwa an die Schließung der Baustellen. Das betrifft die Verordnungen von Bürgermeistern, wie etwa jene von Christian Bianchi in Leifers, der in Fragen der Bewegungsfreiheit noch restriktiver ist als Conte und Kompatscher.

Dürfen sie das? In der aktuellen Notlage wird nicht viel nachgefragt, sondern es gilt die normative Kraft des Faktischen. Und nachträglich wird kein oberstes Gericht Entscheidungen als unverhältnismäßig ahnden.

Dennoch dürfen die Gefahren, die in solchen Notlagen entstehen, nicht übersehen werden. Der Einsatz des Militärs in der Lombardei ist noch kein Militärputsch, solange das Militär dem Befehl der demokratischen Zentralgewalt untersteht. Aber wer einmal über einen weiteren Aktionsradius verfügt als normal, gibt ihn später nicht mehr gern zurück.

Das betrifft auch das Verhältnis zwischen Zentrum und Peripherie. Der Staat beansprucht eine zentrale Ordnungsfunktion in einer Notlage, die Regionen mit ihren Zuständigkeiten sind da eigentlich nur im Wege. Seit es in Italien zum Corona-GAU gekommen ist, gibt es lautstarke Stimmen, die die autonomen Befugnisse der Regionen etwa im Gesundheitswesen in Frage stellen und an den Staat zurückgeben wollen.

Der Chef des italienischen Zivilschutzes, Angelo Borrelli, der jeden Abend um 18 Uhr zur Nation spricht und die neuen Zahlen verkündet, dekretiert Gesundheitsmaßnahmen, kann die Schließungen von Betrieben vorsehen, Verhaltensregeln festlegen, kurzum alles, was mit dem Zivilschutz in Zusammenhang steht. Und das ist in Notfällen so gut wie alles. Er legt die Marschroute fest, die Politik folgt ihm. Die Medikalisierung der Politik ist vollzogen.

Das alles ist keine italienische Besonderheit. Jens Spahn (CDU), Deutschlands Gesundheitsminister, will Kompetenzen, die zum Teil bei den Bundesländern liegen. Er will Ermächtigungen auch ohne Zustimmung des Bundesrates durchsetzen können, etwa Vorschriften über den grenzüberschreitenden Reiseverkehr. Statt die Logiken der Verhandlungsdemokratie anzuwenden, soll durchmarschiert werden können. Im Notfall.

Und in Ungarn, das schon länger als defekte Demokratie gilt, hat Ministerpräsident Viktor Orbán dank Covid-19 die Chance beim Schopf gepackt, Verfassung und Grundrechte definitiv auszuhebeln. Er will mit Dekreten ohne Parlament regieren. Auch das sind Folgen der Pandemie und des Notstandes, demokratiepolitisch äußerst gefährlich.

Die Grundlagen der Verfassung gelten nach wie vor, wenngleich diese in Teilen und für die Zeit des Notstandes halbiert, unterdrückt, aufgehoben worden sind. Das Parlament in Rom, der Landtag in Südtirol, die Gemeinderäte, haben der Konzentration der Macht in den Händen der Regierung keinen Widerstand entgegengesetzt.

Die Legislative kommuniziert kaum mit den Menschen, während Ministerpräsident Conte um Mitternacht Pressekonferenzen gibt, Landeshauptmann Kompatscher jeden Nachmittag bei einer Online-Pressekonferenz auftritt, um so transparent als möglich dazustehen, Bürgermeisterinnen stellen Videos ins Netz.

Die politische Kommunikation, nicht mehr das Parlament, der Landtag, ist Ausgangspunkt der Legitimation für die Notstandsmaßnahmen. Über Kommunikation schafft man Vertrauen. Vertrauen ist eine der wichtigsten synthetischen Kräfte innerhalb einer Gesellschaft, ein zentraler Faktor für jedes politische System.

Vertrauen bildet die Voraussetzung für die gesellschaftliche Kooperation, aber auch für die Akzeptanz von Notstandsmaßnahmen. Die mangelnde formale gesetzliche Legitimation der Notstandsmaßnahmen wird aufgefangen durch das Vertrauen in die politischen Entscheidungsträger, durch politische Kommunikation.

71 Prozent der Bevölkerung haben Vertrauen in Regierungschef Conte und seine Politik. Das beweist, dass die Notstandsmaßnahmen jenseits der verfassungsrechtlichen Legitimation akzeptiert werden. Einen ähnlichen Vertrauensvorschuss genießt im Moment wohl auch Landeshauptmann Kompatscher.

Doch der Ankauf der Halstücher durch Kompatschers wichtigsten Landesrat Thomas Widmann zeigt: Macht muss immer hinterfragt, politische Entscheidungen müssen immer auf Alternativen hin überprüft werden. Politik ist Debatte, Pluralismus, Wettbewerb. Auch in Zeiten des Notstandes.

Günther Pallaver

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