Politik

Der andere Weg

Aus ff 15 vom Donnerstag, den 09. April 2020

Alexandra Fössinger
Die Klausnerin Alexandra Fössinger, 47, lebt seit 8 Jahren in Lund in Schweden. Die Mutter einer fast siebenjährigen Tochter ist Textchefin der Brixner Kommunikations­agentur Brandnamic. © Brandnamic GmbH
 

In Schweden nimmt das Leben auch in Zeiten von Covid-19 seinen gewohnten Gang. Die Menschen dort scheinen angstfrei zu sein – oder täuschen das zumindest vor.

Ich bin – wie viele Einwanderer in Schweden – ungehalten. Ungleich großen Teilen Europas hat sich die Regierung des skandinavischen Staates dazu entschieden, die Verbreitung von Covid-19 nicht mit einem Lockdown zu verhindern, sondern eine Strategie gewählt, die die Zeit unlängst als „schwedischen Sonderweg“ bezeichnet hat. Während anderswo das öffentliche Leben ganz oder teilweise heruntergefahren wurde, geht in Schweden das Leben seinen gewohnten Gang, und Sorgen bereitet das auf den ersten Blick vorwiegend uns Ausländern. Die Schweden selbst scheinen angstfrei zu sein – oder täuschen das zumindest vor.

Anders lassen sich die gutgelaunten Mienen auf den Straßen und in den Parks, in den nach wie vor geöffneten und gut besuchten Restaurants und Cafés nicht erklären; nicht die Unbekümmertheit, mit der im Supermarkt sich keiner auch nur annähernd um einen Sicherheitsabstand zu seinen Mitmenschen bemüht. Ich scheine einer Minderheit anzugehören, wenn ich mich draußen – oft genug vergeblich – im Slalom bewege, um den Entgegenkommenden auszuweichen, und mir jedes Mal der Schreck in die Knochen fährt beim Anblick der vielen alten Leute, die doch zur Gruppe jener gehören, die laut Empfehlung der Folkhälsomyndigheten, der staatlichen Gesundheitsbehörde, besonders geschützt werden sollte – und tunlichst zu Hause bleiben sollten.

Nun bin ich keine Verfechterin drakonischer Maßnahmen und würde mich, im Gegensatz zu vielen italienischen Freunden, die sich aufgrund der Situation zu Hause drastische Maßnahmen auch in Schweden wünschen, ungern Tag und Nacht einsperren lassen. Dennoch bin ich, wie sie, irritiert über die hierzulande angewendete Strategie, da deren Sinnhaftigkeit von den Verantwortlichen nie wirklich beleuchtet wurde. Die Verantwortlichen sind: oben erwähnte Gesundheitsbehörde in der Person des Staatsepidemiologen Anders Tegnell und die sozialdemokratische Regierung mit Ministerpräsident Stefan Löfven. Der übrigens neulich fast schon lapidar mitteilte, die Zahl der Toten werde vermutlich bald „in die Tausende“ gehen; dies bei 10 Millionen Einwohnern.

Die Strategie: Die Kurve solle flachgehalten werden, indem man die Risikogruppen, also Senioren ab 70 und Menschen mit Vorerkrankungen, möglichst schützen wolle, während alle anderen mit wenigen Einschränkungen so weitermachen sollen wie bisher – dies solle für eine hohe Infektionsrate und in der Folge für schnelle Herdenimmunität sorgen. Gymnasien und Universitäten durften zu Fernunterricht übergehen, Grundschulen sind nach wie vor geöffnet. Was das „Social distancing“ angeht, appelliere man an die Eigenverantwortlichkeit der Schweden.

Was jene verunsichert, die diesen Empfehlungen kritisch gegenüberstehen, ist der Tenor, der den Aussagen von Tegnell zugrunde liegt: Man wisse zwar nicht wirklich etwas, schließlich handle es sich um ein ganz neuartiges Virus, vermute aber, dass …, und Kinder seien ohnehin nie ernsthaft betroffen und können folglich wohl niemanden anstecken; wer Symptome zeige, solle zu Hause bleiben, Haushaltsmitglieder dürfen jedoch weiterhin Kontakt zu anderen haben.

Gleichzeitig ist seit Jahren bekannt, wie heruntergewirtschaftet das schwedische Gesundheitssystem ist: Auf 100 000 Einwohner kommen im Schnitt 5 Intensivbetten, das unterbietet in Europa lediglich Portugal; es gibt kein Hausarztsystem, einen Arzt zu konsultieren ist nahezu unmöglich, Diagnosen werden meist über eine von Pflegepersonal verwaltete Hotline gestellt, Fachpersonal fehlt an allen Ecken und Enden. Nicht die besten Voraussetzungen, um für eine Pandemie gewappnet zu sein.

Am Montagabend sprach die offizielle Statistik von 7.345 Infizierten und 506 Toten, Tendenz Verdoppelung. Da Tests aber lediglich bei bereits ins Krankenhaus Eingelieferten durchgeführt werden, ist die Dunkelziffer bedeutend höher.

Das schwedische Modell setzt auf das Verantwortungsgefühl und die Solidarität seiner Mitbürger, sie haben dem skandinavischen Sozialstaat weltweit seinen hervorragenden Ruf beschert. Doch dass diese, wie der Sozialstaat selbst, unweigerlich der Vergangenheit angehören, beweist das Verhalten, das die Schweden an den Tag legen.

Die Zahlen im Handel sind zwar rückläufig, sichtbar in den Städten ist das kaum. Und Maßnahmen, um die Wirtschaft in Gang zu halten, greifen bereits: Damit die Kunden nicht ausbleiben, darf in der Innenstadt von Lund neuerdings, was vorher undenkbar war, gratis geparkt werden.

Solche Aktionen, allen voran aber natürlich die Fahrtrichtung des schwedischen Staates, handeln den Entscheidungsträgern freilich den Vorwurf ein, ökonomische Interessen über Menschenleben zu stellen. Das scheint die meisten aber nicht zu stören; zur schwedischen Kultur gehört ein hohes Maß an Nüchternheit und Pragmatismus. Und die Angst, die manchen beim Gedanken an möglicherweise tausende Tote vielleicht ergreifen mag, lässt sich angesichts dieser Perspektive vielleicht auch leichter verdrängen.

Alexandra Fössinger

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