Politik

Das Heer der Toten

Aus ff 16 vom Donnerstag, den 16. April 2020

Coronatote Nach Ländern mit selber ­Ausgangshöhe (über 100 Tote
Coronatote Nach Ländern mit selber ­Ausgangshöhe (über 100 Tote © ff-Media
 

Die Anzahl der Covid-19-Opfer in Südtirol ist hoch – verglichen mit anderen Ländern. Woran das liegt, was man daraus schließen kann und wer die Verantwortung dafür trägt.

Roland Demetz hat eine schwere Zeit hinter sich. Das Coronavirus wütete in seiner Gemeinde, in den ersten drei Monaten 2020 starben gleich viele Menschen wie sonst in einem ganzen Jahr. Wolkenstein beklagt den Tod von mehr als zwanzig Menschen von Januar bis März.

„Ich“, sagt Bürgermeister Demetz, „habe einen Schwager verloren.“ Dies zeige, dass es jeden treffen kann. Das Virus mache vor keinem Halt.

Immerhin sei die Lage im Dorf nun stabil, sagt Roland Demetz. Die Menschen in Quarantäne würden weniger, die Zahl der Neuansteckungen ebenfalls. Die Leute würden die Beschränkungen einhalten, Wolkenstein sei auf dem richtigen Weg.

Die Gemeinde gehört gemessen an der Bevölkerungszahl zu den landesweit am schwersten betroffenen. Der Südtiroler Sanitätsbetrieb gibt offiziell sieben Covid-19-Tote für Wolkenstein an – doch hinzu kommt eine Dunkelziffer, die in etwa gleich hoch sein könnte.

Nun erscheinen sieben Tote auf 2.700 Einwohner nicht viel. Rechnet man sie aber auf ein gängiges Vergleichsmaß um, wird das echte Ausmaß der Seuche sichtbar. In Wolkenstein gäbe es auf eine Million Einwohner rund 2.600 Todesfälle (7 : 2.700 x 1.000.000).

Zum Vergleich: In Italien waren es am Montag dieser Woche 339 Todesfälle je eine Million Einwohner. In Österreich 41, in Deutschland 38 und in den von der Seuche gebeutelten USA 72. Und Südtirol? Reiht sich in diese Liste mit 405 Toten auf eine Million Einwohner ein. Das ist gar nicht gut.

Nur ein Staat weltweit überbietet diese Zahl: San Marino kommt auf 1.061 Tote pro Million, der Kleinstaat in Mittelitalien beklagt insgesamt 36 Covid-19-Opfer.

Das sind interessante Vergleiche, tatsächlich aber sagt die Anzahl der Toten weit mehr über die Seuche aus, als viele glauben. Sie gibt nach Einschätzung der meisten Wissenschaftler Aufschluss darüber, wie weit sich das Virus inzwischen ausgebreitet hat. Das wiederum ist wichtig, um richtig mit der Seuche umgehen zu können.

Nur wenn man weiß, wo das Virus grassiert und wer davon betroffen ist, können die Ausgangsbeschränkungen langsam gelockert werden. Südtirol fängt in dieser Woche damit an, ab Montag,
4. Mai, soll es dann mit dem Zuhausebleiben vorbei sein. Vorerst.

Wie weit hat sich nun das Virus in Südtirol ausgebreitet? Darüber gibt uns der Sanitätsbetrieb täglich eine offizielle Auskunft: Stand Montag dieser Woche waren es insgesamt 2.145 positiv Getestete und 215 Tote.

Die erste Zahl sagt wenig über die tatsächlich Infizierten in Südtirol aus. Warum? Weil meistens nur diejenigen getestet werden, die starke Symptome zeigen. Wenn überhaupt. Menschen ohne Symptome merken oft nicht, dass sie die Krankheit haben. Sie werden daher auch gar nicht getestet.

Die zweite Zahl, die der Toten, ist da schon aufschlussreicher. Um das zu verstehen, muss man zunächst einen Blick ins Ausland werfen. Zum Beispiel nach Österreich. Dort gab es am 6. April offiziell insgesamt 12.297 Infizierte. Jetzt hat eine Gruppe von Forschern anhand von Stichprobentests erhoben, dass weitere 10.200 bis 67.400 Menschen infiziert sind. Der wahrscheinlichste Wert liege bei 28.500, sodass in Österreich bis zum Stichtag nicht 12.297, sondern vermutlich rund 40.000 Menschen an Covid-19 erkrankt waren.

Die Anzahl der Toten lag an diesem Tag bei 220. Trifft die Untersuchung zu, ist von einer Letalität von 0,55 Prozent auszugehen. Das heißt, 5 bis 6 von 1.000 Infizierten sterben.

Der Sarner Immunologe Bernd Gänsbacher sagt gegenüber ff, ganz so einfach verhalte es sich mit der Letalität bei Covid-19 nicht. Die genaue Prozentzahl werde man erst am Ende der Pandemie wissen. Derzeit sehe man immer nur Ausschnitte vom großen Ganzen.

Denn es sei ein Unterschied, ob die Seuche in einem Altenheim grassiere oder in einem Kindergarten. Die Sterblichkeit sei umso höher, je älter die Menschen sind und je mehr Vorerkrankungen sie aufweisen.

Das zeigen die Südtiroler Zahlen deutlich. Eine Auswertung dieses Magazin ergab, dass bis Montag dieser Woche fünf Covid-19-Tote jünger als 60 Jahre alt waren. Das entspricht 2,3 Prozent.

210 Tote waren demnach 60 Jahre alt und älter. Das sind 97,7 Prozent. Wobei der Trend klar ist: Je älter die Menschen, desto anfälliger sind sie (siehe Grafik).

Je mehr alte und kranke Menschen von der Krankheit befallen sind und je stärker das Gesundheitssystem der jeweiligen Region unter Druck steht, desto höher fällt die Letalität aus. Immunologe Gänsbacher geht daher von einer weltweiten Letalität („case fatality rate“, Anteil der Todesfälle unter den Infizierten) von bis zu 2 Prozent aus. „In Italien“, sagt er, „könnte sie sogar noch deutlich höher sein.“

Doch bleiben wir in Südtirol. Hier erzählen uns die offiziellen Zahlen etwas anderes. Hier haben wir, Stand Montag dieser Woche, insgesamt 2.145 positiv Getestete und 215 Tote. Das würde auf eine Letalität von etwa 10 Prozent deuten.

Das ist ein wenig wahrscheinlicher Wert. Denn warum sollten hier so viel mehr Menschen an Covid-19 sterben als in Österreich oder Deutschland? Schließlich ist auch das Gesundheitssystem – im Gegensatz etwa zu Bergamo – nicht zusammengebrochen. Wäre dies der Fall gewesen, könnte man durchaus von einer höheren Sterblichkeit ausgehen.

Viel naheliegender ist etwas anderes: Dass auch in Südtirol die Zahl der unentdeckten Coronafälle ziemlich hoch sein muss. Ausgehend von den 215 Toten und einer Letalität von 1 Prozent (das wären 10 Todesfälle auf 1.000 Infizierte), ergibt das die Zahl 21.500. Somit gebe es in Südtirol nicht nur 2.145, sondern 21.500 Infizierte.

Eine Herdenimmunität ist aber selbst mit dieser hohen Zahl noch längst nicht erreicht. 21.500 Infizierte entsprechen 4 Prozent der Südtiroler Bevölkerung, für eine Herdenimmunität bräuchte es wenigstens 70 bis 80 Prozent.

Allerdings ist in Seuchenherden wie etwa Wolkenstein mit einem höheren Anteil der Infizierten an der Bevölkerung zu rechnen. Zu überprüfen wäre außerdem, wie hoch die Dunkelziffer an Toten ist. Um solche Dinge herauszufinden, müsste man auch in Südtirol Stichprobentests machen.

Sven Knoll von der Südtiroler Freiheit fordert genau das. Damit, sagt er, könne die tatsächliche Anzahl der Infizierten ermittelt werden. Nur so könne man die Seuche erfolgreich einbremsen. In Österreich habe man herausgefunden, dass weniger als 1 Prozent der Bevölkerung infiziert sei: „Von einer Herdenimmunität ist man somit weit entfernt.“

Von einer Herdenimmunität spricht man, wenn mindestens drei Viertel der Menschen Antikörper gegen ein Virus gebildet haben – entweder durch eine Erkrankung oder eine Impfung. Dadurch kann die Ausbreitung einer Krankheit eingebremst werden und auch Menschen, die noch keine Antikörper gebildet haben, sind besser geschützt.

Der Immunologe Gänsbacher ist ebenfalls für solche Tests. Das sei aber nur ein erster Schritt. Grundsätzlich, sagt er, solle man verstärkt nach Asien blicken, um zu lernen, wie man am besten mit dem Virus leben kann.

Als Beispiel nennt er gern Südkorea. Dort gingen die Behörden nach dem ersten Infektionsfall (am 20. Januar) schnell und entschieden gegen die Krankheit vor. Inzwischen ist das Virus im asiatischen Land weitgehend unter Kontrolle.

Wie hat Südkorea das hingekriegt? Zum einen werden Infektions- und Verdachtsfälle rigoros isoliert. Und zum anderen werden alle Kontaktpersonen ermittelt und ebenfalls unter Quarantäne gestellt. Das geschieht über anonymisierte Daten etwa von Handys oder Kreditkarten. Dadurch kann festgestellt werden, wo sich Infizierte aufgehalten haben.

Auf diese Weise können Kontaktpersonen schnell aufgespürt und darüber informiert werden, dass sie dem Virus ausgesetzt waren und sich isolieren sollten. Alle diese Menschen werden umfangreich getestet, unabhängig davon, ob sie Symptome zeigen oder nicht. Das gibt den Behörden einen guten Überblick darüber, wie viele Menschen im Land infiziert sind.

Und vor allem: Durch diese Vorgehensweise können die Krankenhäuser im Land entlastet werden. Derzeit befinden sich dort etwa 50 Menschen in Intensivbehandlung, diese Anzahl kann leicht bewältigt werden. Auch die Anzahl der Toten blieb bisher mit etwa 220 überschaubar. „Das heißt“, sagt Bernd Gänsbacher, „man kann das Virus auch gut kontrollieren.“

Und wie, Herr Professor, können wir dahinkommen?

– Wichtig ist, dass jetzt die richtigen Entscheidungen getroffen werden. Mittelmäßige Menschen treffen mittelmäßige Entscheidungen. Und klügere Menschen treffen klügere Entscheidungen. Das ist ein Naturgesetz und gilt für alles. –

Das heißt, wenn Südtirol oder Italien am Ende der Pandemie schlecht dastehen, werden wir wissen, wie unser politisches Führungspersonal einzuordnen
ist?

– Das liegt wohl auch der Hand, oder? Nehmen Sie eine Fußballmannschaft her. Die eine hat einen tollen Trainer, trainiert die ganze Woche und die andere hat einen schlechten Trainer und liegt auf der Couch. Dann spielen sie gegeneinander und die fitte Mannschaft gewinnt 5:0. Es wäre ja traurig, wenn es nicht so wäre. Deshalb bekommen die guten Spieler auch ein hohes Gehalt und die schlechten Spieler ein niedriges Gehalt. –

Italien ist derzeit ein Verliererteam?

– Es sieht leider so aus. –

Wer schaut sich am Ende an, wie das Coronaspiel gelaufen ist?

– Das muss schonungslos aufgearbeitet werden. Wer hat welche guten Entscheidungen getroffen? Und wer hat Fehlentscheidungen getroffen? Das muss man herausfinden, allein schon aus Respekt vor den Menschen, denen diese Entscheidungen das Leben gekostet haben. Das Problem in Italien wird sein, dass die Leute, die diese Entscheidungen getroffen haben, immer noch vorne dran sitzen und die Entscheidungen selber bewerten.

weitere Bilder

  • Anzahl der ­covid-19-Toten (am 13.4.2020) Wer die Covid-19-­Toten in Südtirol sind Bernd Gänsbacher

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