Politik

Was passiert da gerade?

Aus ff 17 vom Donnerstag, den 23. April 2020

Baustelle
Arbeiter auf einer Baustelle: Ist ein Covid-19-Erkankter ein privilegierterer Kranker als ein anderer? © Alexander Alber
 

Der Schriftsteller und Unternehmer Horst Moser fragt sich: Was, wenn das, was wir tun, gefährlicher ist als das, was wir bekämpfen?

Die Wiesen sind irgendwie grüner, der Himmel blauer, die Luft reiner. In Venedigs Kanälen sieht man bis auf den Grund, der Smog in Ballungszentren ist verschwunden, Rehe laufen durch Stadtparks. Die Natur hat Verschnaufpause. Was passiert da gerade?

Was wir erleben, ist die Verbrüderung der Allgemeinheit im Geiste des vermeintlich einzig Richtigen zum Wohle des Guten. Freiwillig und mit Überzeugung. Erstaunlich, dass die große Mehrheit überzeugt werden konnte, dass es erstens alternativ­los und zweitens gut ist, was geschieht. Verschnaufpause: Ist das wirklich so? Um Juli Zeh, Autorin und Juristin, zu zitieren: „Alternativlos ist ein anderes Wort für: keine Widerrede. Eine eskalierende Medienberichterstattung treibt Politik und Öffentlichkeit vor sich her.“

Kurzes Nachdenken. Eine Realität hat uns überrannt, die in ihrer Geschwindigkeit eine fachübergreifende und für Bürger verständliche Diskussion über Alternativen nicht hat zustande kommen lassen. Und das nicht zuletzt auf Kosten all dessen, was in Jahrzehnten an Demokratie und Freiheit aufgebaut worden ist. Anders gesagt: Während die Natur sich erholt, erkranken die grundlegenden demokratischen Rechte.

Genau deshalb muss die Auseinandersetzung mit der Frage nach der Rechtfertigung, der Angemessenheit und Verhältnismäßigkeit stattfinden. Weil wir eine Gesellschaft sind, die auf Gewaltenteilung aufbaut, die für freie Meinungsäußerung steht, durch Auseinandersetzung und offenen Diskurs zu dem geworden ist, was sie ist: eine freie Demokratie.

Ist der angerichtete Schaden tatsächlich geringer als der verhinderte? Keine Statistik wird nachvollziehbar Antwort geben können. Umso bedeutender ist das Auswerten von Daten und das Aufwerfen von Fragen, weil die Deutungshoheit vorerst an wenige abgegeben wurde oder hat abgegeben werden müssen im Eifer des Gefechts. Weil Mechanismen in Gang gesetzt wurden, die unaufhaltsam sind, unberechenbar in ihrer Schnelligkeit, sodass Alternativen – vielleicht falsche, vielleicht ähnliche, vielleicht bessere – nicht mehr geprüft werden konnten. Damit das bedingungslose Abnicken und das Fehlen von Kontrollorganen unsere demokratischen Werte, auf denen unsere Freiheit fußt, nicht gefährden.

Wir schreiben den 17. April, weltweit zählen wir 150.000 Verstorbene, deren Tod mit dem Virus Sars-Cov-2 (Covid-19) in Verbindung gebracht wurde. Tendenz steigend. Vermutete Dunkelziffer um ein Vielfaches höher. Endgültige Daten werden erst in Monaten vorliegen. Bei Zahlen und Datenangaben muss man vorsichtig sein. Quellen prüfen. Vergleichen. Was man sagen kann: Jedes Jahr sterben laut Weltgesundheitsorganisation WHO 8 Millionen Menschen an den Folgen des Tabakkonsums. Das Influenzavirus fordert weltweit nach aktuellen Studien (laut United States Centers for Disease Control and Prevention, WHO, mehreren globalen Gesundheitsinstitutionen, darunter auch die Med-Uni Wien) zwischen 290.000 und 645.000 Opfer. Im Jahr 2017 starben 435.000 Menschen an Malaria. Im Jahr 2018 kamen 770.000 Personen ums Leben, die das Virus HIV in sich trugen, das Aids auslöst.

Krankheiten und daraus resultierende Opfer, für die nicht ansatzweise das unternommen wurde, was heute geschieht. Woran liegt das? Dass die grauenvollen Bilder fehlen, um uns wachzurütteln? Und was ist mit den Schmerzpatienten, Schwerkranken, zu Operierenden, die jetzt gerade auf ihre Behandlung warten, auf ihre Medizin, auf eine Operation? Ist ein an Covid-19-Erkrankter ein privilegierterer Kranker als ein anderer?

In den sozialen Netzwerken findet in diesen Wochen die Solidarisierung der Privilegierten statt. Es lässt sich so schön einsam sein in den Zimmerfluchten der noblen Großwohnungseinheit mit uneingeschränkten Gigabytes und Glasfasernetzverbindung, während in Hochhäusern der Haupt- und Vorstädte die Nerven blank liegen, die Gewalt eskaliert, untereinander, gegeneinander, gegenüber Kindern, gegenüber Frauen. Ausweglosigkeit auf fünfzig Quadratmetern, dünne Wände, schlechte Luft, die Angst vor dem Morgen.

Menschen werden krank, psychisch, physisch, noch mehr in der Lebenseinstellung. Selbstmorde, Abhängigkeiten, finanzielle Sackgassen. Die Ausweglosigkeit lauert vor der Tür, die Arbeitslosenzahlen steigen ins Unermessliche. Kollateralschäden. Nicht die einzigen. Berichtet wird darüber nur hinter vorgehaltener Hand. Genauso wenig wie über die Flüchtlinge an den Außengrenzen zur EU, die mehr denn je unter unmenschlichsten Bedingungen leiden. Das Leid, das einem selber zu widerfahren droht, ist am Ende doch das größte.

Wovor ich mich wirklich fürchte – ein Gedankenspiel:

Die Distanz wird bleiben zwischen uns, die Nationalitäten in alter und gefährlicher Stärke auferstehen, die Grenzen, die hochgezogen wurden, nur mehr schwer oder gar nicht zu überbrücken sein. Denunziantentum, Misstrauen, Vorverurteilungen inklusive. Wir werden wissen, wie es damals war. Wer will, versteht, was ich meine.

Nichts wird mehr sein, wie es war, das Zusammenrücken und Zusammenhalten bloße Parolen in sozialen Netzwerken, weil es einfacher ist, ein Bild zu teilen oder ein Video, als Menschlichkeit im realen Leben. Kritische Stimmen, die zu Diskussionen anregen, werden von Plattformen gelöscht. Nachrichten können nicht mehr uneingeschränkt weitergeleitet werden. Beides ist bereits Realität.

Ich fürchte mich davor, dass kritischer Journalismus in Nischen verschwindet. Dass kleine Verlage zusperren und jene wichtigen Einblicke in Lebensformen und -geschichten ausbleiben, die uns die Welt erklären. Ich fürchte mich vor Apps, die Persönlichkeitsrechte verletzen, heute eingesetzt zum vermeintlichen Schutz der Bevölkerung, morgen schon gegen sie. Ich fürchte mich vor der Angst, die plötzlich greifbar ist, einen Namen hat, mehrheitstauglich ist. Vor der Verbrüderung von Links und Rechts im Aussetzen der Demokratie, weil Angst und ein gemeinsamer Feind blind machen vor anderen Gefahren.

Und ich frage mich, wer in unserem Namen dafür Sorge tragen wird, dass das irgendwann, wenn alles überstanden ist, wieder aufhört. Die Kontrolle, die Überwachung, die digitale Speicherung all unserer Aktivitäten. Und ich frage mich auch, was das aus unserer Wertegemeinschaft machen wird, werden wir daraus lernen, uns eine Meinung bilden, vielleicht sogar eine eigene?

Gegen das Virus nichts zu unternehmen, wäre keine Alternative gewesen. Das Vorgefallene aber muss aufgearbeitet werden. Auf breiter Basis. Und was die Natur betrifft, so hat sie das kurzfristige Aufatmen nötig, denn auch der Klimaschutz wird leiden, im schlimmsten Fall mehr noch als davor. Individualverkehr, die Art des Reisens, fehlendes Geld für wichtige Maßnahmen.

Welche Lehren man ziehen kann.

Aus dem Davor: Dass eine Gesellschaft, die sich selbst ständig zu übertrumpfen versucht, irgendwann gegen die Wand fährt. Aus dem Jetzt: Dass wir uns der Manipulationsmaschinerie, der wir ausgesetzt sind, mit Mut und Nachdenken entgegenstellen. Dass das Sparen im Gesundheitswesen vielleicht nicht der vernünftigste Ansatz ist. Dass wir anfangen müssen, lokal zu denken und zu handeln, weil wir es sind, die den bekannten Internetkonzernen unermessliche Gewinne bescheren, für die wenig oder gar keine Steuern bezahlt werden, während überall sonst das Geld fehlt, gerade jetzt. Dass die Internationalisierung der Produktionsprozesse Abhängigkeiten und ungerechte monetäre Verteilung fördert. Dass das Gemeinschaftsgefühl nicht auf die digitale, auf die fiktive Welt beschränkt sein soll. Weil ein geteiltes Bild oder ein geliktes Video die Welt nicht verbessert, sondern das, was wir in der realen Welt tun.

Am Ende darf man ja noch hoffentlich hoffen.

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  • Horst Moser

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