Politik

Diät mit Nebenwirkungen

Aus ff 40 vom Donnerstag, den 01. Oktober 2020

Referendum
Abstimmung über die Zahl der Parlamentarier: unvollständige Verfassungsreform. © Alexander Alber
 

Nach der Schrumpfung des Parlaments durch das Refererndum fängt die Arbeit erst an. Zwischen Vetos, die sich kreuzen, und instabilen politischen Verhältnissen. (Beitrag von Günther Pallaver)

Nach 40 Jahren Diskussion in vier parlamentarischen Kommissionen werden ab den nächsten Parlamentswahlen statt 630 Abgeordnete nur mehr 400 in die Kammer gewählt werden, statt 315 Senatoren nur mehr 200. So wollte es das Volk mit großer Mehrheit. Die Verfassungsreferenden 2006 und 2016 waren noch abgelehnt worden, und damit auch die Reduzierung der Parlamentarier. Für die Abmagerung gab es beim Referendum am 20. und 21. September die höchste Zustimmung in Molise (79,9) und in Südtirol (79,01 Prozent).

Ein Verfassungsreferendum kann nur eingeleitet werden, wenn nach vier Abstimmungen in Kammer und Senat es beim zweiten Votum keine Zweidrittelmehrheit gibt. Das war im Senat der Fall, während in der Kammer 88 Prozent der Abgeordneten für die Reduzierung gestimmt hatten. Dann aber begann das politische Gewürge. Außer 5 Stelle und Fratelli d’Italia gab es in allen Parteien, die offiziell für die Verkleinerung des Parlaments eintraten, plötzlich prominente Dissidenten. Die Wähler der 5 Stelle, Einbringer der Verfassungsreform, stimmten schließlich mit 96 Prozent für die Reduzierung, es folgen Fratelli d’Italia mit 71 Prozent, während bei den Leghisti trotz offizieller Zustimmung durch Parteiobmann Matteo Salvini ein Drittel mit Nein stimmte. Dass der Dissens im Partito Democratico (PD) erheblich war, zeigen jene 42 Prozent der PD-Wähler, die gegen die Reform gestimmt haben. Im Gegensatz zum Verfassungsreferendum von 2016, als auch über die Regierung Renzi abgestimmt wurde, haben am 20. und 21. September 3 von 4 Wählern die Sachfrage im Auge behalten.

Diese starke inhaltliche Orientierung der Wählerschaft weist auf einen neuen Trend hin. Der Vorstoß zur Reduzierung der Parlamentarier war ein populistischer Schachzug der 5 Stelle gewesen, der aber allmählich einer sachlichen Überlegung Platz machte. Das Verdienst der Gegner bleibt in jedem Falle, dass zwei Punkte, die im Reformkorb der 5 Stelle lagen, in der parlamentarischen Überarbeitung gestrichen wurden. Die 5 Stelle wollten neben der Reduzierung zusätzliche direktdemokratische Instrumente sowie das imperative Mandat einführen, um dadurch die repräsentative Demokratie weiter zu schwächen.

Das Referendum kann deshalb als Endpunkt einer längeren Welle des italienischen Populismus interpretiert werden. Das ergibt sich aus einer Reihe von Vergleichen der beiden Parteien 5 Stelle und Lega, der Bannerträger des Populismus. Die von Beppe Grillo gegründeten
5 Stelle befinden sich im freien Fall. 2013 erzielten sie bei den Parlamentswahlen 25,6 Prozent, bei jenen im Jahre 2018 kletterten sie auf unglaubliche 35,5 Prozent und wurden zur stärksten Partei Italiens, um sich bei den EU-Wahlen ein Jahr später fast zu halbieren (19,5) und bei den Regionalwahlen auf 7,2 Prozent zu fallen.

Die Lega lag bei den Parlamentswahlen 2013 mit 4 Prozent am Boden, schaffte es mit dem neuen Parteivorsitzenden Salvini 2018 auf 16,1 Prozent. Den Höhepunkt erreichten die Lumbard bei den EU-Wahlen 2019 mit 33,1 Prozent, um jetzt bei den Regionalwahlen auf 13,1 Prozent zurückzufallen. Der Versuch, sich zu „nationalisieren“ schlug fehl. In Kampanien kam die Lega gerade einmal auf 5,6 Prozent. Auf der anderen Seite wird dem PD von politischen Beobachtern zugetraut, die Lega bald einmal zu überholen. Er hat die Lega bei den vergangenen Regionalwahlen bereits überholt: 18,7 zu 13,1 Prozent.

Doch die parlamentarischen Kräfteverhältnisse bleiben auch nach den Regionalwahlen unverändert. Das bringt die Regierung aus 5 Stelle und PD in Bedrängnis. Denn die Reduzierung der Parlamentarier zwingt die Regierung, diese Entscheidung in die Praxis umzusetzen. Und dazu wäre ein möglichst breiter Konsens nötig. Das Parlament hätte jetzt drei Jahre Zeit, das von den Vertretern des Nein, aber auch von großen Teilen des Ja geforderte Gesamtpaket an Reformen anzugehen.

Im Mittelpunkt steht nach wie vor die Abschaffung des paritätischen Zweikammersystems, etwa die Umwandlung des Senats in eine Vertretung der Regionen. Die Vorschläge reichen von einer stärkeren Regionalisierung bis hin zu einer Föderalisierung des Staates. Allerdings gibt es auch Signale in die entgegengesetzte Richtung, um die Regionen wieder an die kurze Leine zu nehmen. Gerade die Covid-19-Pandemie hat gezeigt, dass es eine stärkere institutionelle Koordinierung zwischen Zentrum und Peripherie braucht, um die ständigen institutionellen Auseinandersetzungen zwischen Regierung und Regionen und ständige Rekurse vor dem Verfassungsgericht zu vermeiden. Der PD schlägt vor, die Zuständigkeiten des Senats zu reduzieren und diesen mit einem Abgeordneten aus jeder Region zu integrieren. Die beiden Häuser des Parlaments sollten nur mehr das Budget gemeinsam verabschieden und der Regierung das Vertrauen aussprechen. Außerdem sollte das Wahlalter neu festgelegt werden, auf 18 das aktive, auf 25 das passive Wahlrecht. Jetzt liegt das Alter für die Wahl des Senats bei 25 bzw. 40 Jahren.

Eine Aufwertung der Regionen wäre auch dadurch denkbar, dass die Anzahl der Wahlmänner und -frauen für die Wahl des Staatspräsidenten nicht geändert wird. Die Anzahl der Parlamentarier ist nun reduziert worden, während die Regionalvertreter mit 58 an der Zahl gleich geblieben sind, wodurch ihr Gewicht gestiegen ist.

Zwei Reformen stehen in einem unmittelbaren Zusammenhang mit dem Ergebnis des Referendums und müssen umgehend angegangen werden. Das Wahlsystem und die Neuordnung der parlamentarischen Reglements. Die von den „Comitati del No“ kritisierte Reduzierung der politischen Repräsentativität kann durch ein Wahlsystem aufgefangen werden, das mit der Neueinteilung der Wahlkreise einhergeht. Ein erster Entwurf der Regierung sieht ein Verhältniswahlsystem mit einer 5-Prozent-Sperrklausel vor. Aber es gibt transversale Vetos, die eine zügige Einigung wohl verhindern werden.

Die Lega will ein Mehrheitswahlsystem, ihr Bündnispartner Forza Italia eher ein Verhältniswahlsystem. Solche koalitions-interne Dissidenten gibt es auch im Regierungslager. Italia Viva von Matteo Renzi bevorzugt ein Mehrheitswahlsystem, wie auch einige Bigs des PD, von Romano Prodi über Enrico Letta bis zu Walter Veltroni. Der Regierungspartner Liberi e Uguali will hingegen die Sperrklausel auf drei Prozent herunterschrauben, um überhaupt den Einzug ins Parlament zu schaffen. Und dann wird darüber gestritten, ob es blockierte Listen oder wieder Vorzugsstimmen geben soll. Da es für die Änderung des Wahlsystems nur eine einfache Mehrheit braucht, schaut jede Regierung auf den eigenen Vorteil. Ein neues Wahlsystem wäre das sechste seit 2005.

Bevor an die parlamentarischen Regeln Hand angelegt wird, sollte jedenfalls das Wahlsystem feststehen, weil dieses nicht nur quantitative, sondern auch qualitative Änderungen zur Folge haben wird. Vom Wahlsystem hängt es ab, ob politische Minderheiten angemessen im Parlament vertreten sind und in den verschiedenen Kommissionen des Parlaments mitarbeiten können oder wie die Rechte der Opposition aussehen werden. Der Warnung, ein reduziertes Parlament könne seinen Aufgaben nicht mehr nachkommen, widerspricht die Erfahrung des Parlaments selbst. Erst 1963 wurde die Anzahl der Parlamentarier mit 630 und 315 fixiert. In der Legislaturperiode 1953– 1958 gab es beispielsweise nur 237 Senatoren, da die Anzahl der Parlamentarier an die Bevölkerungszahl gebunden war, 1958 bis 1963 waren es 246. Die Arbeit in den Kommissionen war deshalb nicht weniger effizient.

Unmittelbar nach dem Referendum und den Regionalwahlen waren 68 Prozent der Italiener der Meinung, die Regierung sei gestärkt worden, nur 20 hielten sie für geschwächt. Ob die Reformen aber ein gutes Ende finden, hängt von den 5 Stelle ab. Die Partei ist gespalten und in Grabenkämpfe verstrickt, „movimentisti“ und „istituzionalisti“ stehen sich feindlich gegenüber. Sollte es zu einer Abspaltung kommen, ist die parlamentarische Mehrheit, besonders im Senat, dahin. Und damit auch der Reformschub.

Italien ist durch eine hohe Volatilität des Konsenses und durch eine starke Fragmentierung des Parteiensystems gekennzeichnet. Unter diesen Rahmenbedingungen hilft weder die Reduzierung der Parlamentarier noch ein noch so gutes Wahlsystem, um das politische System zu stabilisieren.

Günther Pallaver

Leserkommentare

Kommentieren

Sie müssen sich anmelden um zu kommentieren.