Politik

Bedrohte Oase

Aus ff 21 vom Donnerstag, den 27. Mai 2021

Israel
Der Nahostkonflikt ist wieder voll aufgeflammt. © Abbas Momani/Apa
 

Der Nahostkonflikt ist wieder ausgebrochen. Auch die Menschen im israelischen Friedensdorf Neve Shalom/Wahat al-Salam haben Angst. Hält das Dorf der Gewalt stand?

Für uns im Westen kam der erneute Ausbruch der Gewalt zwischen Israelis und Palästinensern ohne Vorwarnung. Rita Boulos hatte ihn hingegen kommen sehen. Boulos ist die Bürgermeisterin von Neve Shalom, das auf Arabisch Wahat al-Salam und auf Deutsch Oase des Friedens heißt. Ein Friedensdorf, in dem seit seiner Gründung 1970 Juden wie muslimische und christliche Palästinenser, allesamt israelische Staatsbürger, gleichberechtigt miteinander leben und sich gemeinsam für eine friedliche Zukunft im Land einsetzen.

Als die Raketen der radikalislamischen Hamas und die des israelischen Abwehrsystems Iron Dome in den Himmel stiegen, schrieb mir Rita Boulos in einer Mail: „Die gegenwärtige Gewalt ist das jüngste Ergebnis von bereits lang andauernden schwelenden Spannungen, deren Ausbruch nicht überrascht. Denn noch immer fehlt eine politische Lösung.“

Zum Ausbruch der Gewalt kam es, als die israelische Polizei muslimische Gläubige daran hinderte, sich nach dem Gebet vor dem Damaskus-Tor in der Altstadt von Jerusalem zu versammeln, auch die drohende Zwangsräumung palästinensischer Familien im Sheikh Jarrah-Viertel im Osten Jerusalems heizte die Stimmung an.

Es folgten gewaltsame Zusammenstöße zwischen israelischer Polizei und Palästinensern in der Al-Aqsa-Moschee auf dem Tempelberg. Nachdem Israel seine Truppen nicht innerhalb des von der Hamas gesetzten Datums vom Tempelberg abgezogen hatte, wurden die ersten Raketen Richtung Israel abgeschossen. In mehreren israelischen Städten kam es zu Auseinandersetzungen zwischen jüdischen und palästinensischen Einwohnern. Seit dem Ausbruch der Gewalt vor zwei Wochen starben mehr als 200 Menschen, auf beiden Seiten gibt es Tote. Vergangene Woche dann endlich ein Lichtblick: seit Freitag herrscht eine Waffenruhe.

Auch die Bewohner im Friedensdorf Neve Shalom/Wahat al-Salam sorgen sich, seit vielen Jahrzehnten arbeitet man hier an der Verständigung zwischen den Religionen – 1979 wurde dafür etwa die Friedensschule für Erwachsene gegründet. Mehr als 50.000 Menschen haben bis heute dort Seminare zum Zweck der gegenseitigen Verständigung besucht.

70 Familien leben im Dorf. Mehr als 300 Kinder besuchen hier die zweisprachige, interreligiöse Grundschule, eine der ersten Schulen dieser Art in Israel. Neve Shalom/Wahat al-Salam gilt weltweit als mögliches Modell für ein friedliches Zusammenleben zwischen Israelis und Palästinensern, als Symbol für eine bessere Zukunft. Aber hält der Friede im Dorf der Gewalt stand?

Bürgermeisterin Rita Boulos beschreibt die aktuelle Situation vor Ort mit klaren Worten: „Neben der unmittelbaren Sorge um unsere Lieben sind wir alle im Dorf zornig und traurig über den erneuten Gewaltausbruch. Unsere gesamte Arbeit ist in Richtung einer friedlichen und sicheren Zukunft ausgerichtet, gekennzeichnet von einer Gleichberechtigung zwischen Juden und Palästinensern. Jeder Gewaltausbruch zeigt überdeutlich, wie weit wir noch von einer solchen Zukunft entfernt sind.“

Das Dorf, dem sie vorsteht, liegt auf einem Hügel zwischen Tel Aviv und Jerusalem, in der Nähe zur Grenze zum Westjordanland. Bisher blieb es von den Raketen verschont, sie sind aber am Himmel sichtbar. „Als wir die ersten Explosionen hörten und von unseren Balkonen sahen, wie die Raketen auf die zentrale Region Israels fielen, musste ich meiner dreijährigen Enkelin zur Beruhigung sagen, dass dies nur ein Feuerwerk sei. Die Kinder in unserer Grundschule sind zu groß für solche Geschichten, zugleich sind sie zu jung, um die gesamte Situation zu verstehen.“

Die Menschen im Dorf verurteilen die Gewalt auf beiden Seiten und rufen die internationale Gemeinschaft auf, Druck auf alle beteiligten Parteien auszuüben, um einen baldigen Waffenstillstand zu erwirken.

Die jüdischen Bewohner des Dorfes erleben die eskalierende Gewalt anders als die palästinensischen Bewohner, man geht anders mit der Bedrohung um. Ein Beispiel: Als in ganz Israel Juden und Palästinenser für ein Ende der Gewalt demonstrierten, schlossen sich auch einige der jungen Erwachsenen der zweiten Generation des Dorfes diesen Protesten an. Auf einem Schild, das sie hochhielten, stand die Botschaft: „Palästinenser und Juden weigern sich, Feinde zu sein!“

Ein eindrücklicher Spruch und ein eindrückliches Bild. Als ich die Personen auf dem Foto kontaktierte und um ihre Einwilligung bat, das Bild online veröffentlichen zu dürfen, lehnte das ein junger Palästinenser ab. Eine Familie aus dem Dorf hatte nach einem ähnlichen öffentlichen Aufruf Drohungen von radikalen jüdischen Siedlern aus der Umgebung erhalten. Als ich den anderen mitteilte, das Foto nicht zu veröffentlichen, um den jungen Mann und seine Familie zu schützen, reagierten die jüdischen Jugendlichen enttäuscht. Sie sind der Meinung, ihre Botschaft müsse verbreitet werden, damit die Welt sieht, dass es „hier auch Menschen gibt, die den Krieg nicht unterstützen“.

Wer gegen Gewalt eintritt, hat aber oft auch Angst. Aus gutem Grund.

Seit Tagen ziehen Gruppen radikaler jüdischer Israelis durch die Straßen und gehen gewaltsam gegen Palästinenser vor, genauso attackieren Palästinenser immer wieder jüdische Israelis. Noam Shuster, eine jüdische Friedensaktivistin, die in Neve Shalom/Wahat al-Salam lebt, ruft seit Tagen dazu auf, Menschen Unterschlupf zu bieten, die Schutz vor gewaltbereiten Gruppen suchen. Es kursieren Videos von israelischen Soldaten, die radikalen jüdischen Siedlern bei ihren Streifzügen durch palästinensische Wohnviertel Begleitschutz geben. Die Lage ist ernst und das Vertrauen in den Schutz durch die israelische Polizei oder das Militär kaum vorhanden.

Was die Gewalt für das Friedensdorf bedeutet, wie sich die Auseinandersetzungen auf das bislang friedliche Zusammenleben der Menschen auswirken wird, ist noch nicht absehbar. Zu größeren Konflikten – innerhalb der Gemeinschaft – dürfte es nicht kommen. Bereits in den vergangenen Jahrzehnten hat es immer wieder ähnliche gewaltsame Auseinandersetzungen im Land gegeben. Die Dorfbewohner haben sich aber von ihrem Bemühen um Frieden nie abbringen lassen.

Die Vision von Gründer Bruno Hussar und die Hoffnung auf eine gleichberechtigte und friedliche Zukunft im Land wird von den Menschen im Dorf nach wie vor lebendig gehalten. Die Bürgermeisterin schreibt: „Wir verurteilen die Gewalt beider Seiten. Wir werden weiterhin unsere Aufgabe erfüllen, zum Frieden zu erziehen und ein Beispiel dafür geben, wie eine gemeinsame und gleichberechtigte Gesellschaft von jüdischen und palästinensischen Bürgern im Nahen Osten aussehen könnte.“

Durch die aktuellen Ereignisse droht das Dorf aber noch deutlicher zu dem zu werden, was es eigentlich nie sein wollte: Eine Utopie, die außerhalb ihrer selbst nicht existieren kann.

Verena Massl

Verena Massl, 31, ist Sozialpädagogin. 2016 lebte sie fünf Monate im israelischen Friedensdorf Neve Shalom/
Wahat al-Salam, über das sie auch ihre Masterarbeit im -Studiengang Innovation in Forschung und Praxis der
Sozialen Arbeit an der Freien Universität Bozen schrieb. Für ihre Abschlussarbeit erhielt Massl den Karl-Golser-Preis.

weitere Bilder

  • Grundschule von Neve Shalom/Wahat al-Salam

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