Politik

Patienten und heimliche Patienten

Aus ff 27 vom Donnerstag, den 07. Juli 2022

Bettenstop
Der Tourismus hat eine große wirtschaftliche und soziale Bedeutung: „Aber die Grenze ist vielfach überschritten.“ © Morgan Lane/Unsplash
 

Der „Bettenstopp“: Bluff und Härtetest für die SVP. Ein Gastkommentar von Hans Heiss.

Das vorläufige Scheitern des „Bettenstopps“ wirkt wie ein Kontrastmittel, das Grundkonflikte in Politik und Gesellschaft Südtirols sichtbar macht. Bei einem -Patienten, der Kontrastmittel einnimmt, zeigt die anschließende Röntgendiagnose im günstigen Fall Anzeichen von Krankheit im frühen oder bereits vorgerückten Stadium. Daher offenbart der Blick auf das jüngste Debakel im Landtag Krankheitsbilder, Fehldiagnosen, denkbare Therapien und Chancen der Behandlung – über den Tourismus hinaus.

Zunächst: Die wirtschaftliche und soziale Bedeutung des Sektors steht außer Streit, schafft er doch rund 13–15 Prozent des Bruttoinlandsprodukts (Bip), sichert Arbeitsplätze, stärkt den ländlichen Raum, sorgt für Infrastrukturen und Freizeitangebote. Aber wie bei jedem Patienten genügen auch hier minimale Überschreitungen der Normwerte, um schwere Pathologien auszulösen. Diese Grenze ist in Südtirol vielfach überschritten.

1. Der Patient Tourismus leidet unter zu sprunghaftem Wachstum, wie einsichtige Touristiker und Verbände längst diagnostizieren. Die äußeren Wachstumsdaten sind beeindruckend: Die offiziellen Nächtigungszahlen kletterten von 2007 bis 2019 von 27,3 auf 33,6 Millionen, die Gesamt-Bettenzahlen zeitgleich von 217.300 auf etwa 228.000 und legten somit trotz des zeitgleichen Ausscheidens vieler Betriebe per Saldo um circa 1.000 im Jahr zu. Air-B’n’B-Betten schießen wie Pilze auf, es sind wohl weit mehr als die geschätzten 4.000. Der „Urlaub auf dem Bauernhof“ (UAB) steigerte sein Bettenangebot 1999–2018 um rund 65 Prozent, seine Nächtigungen im selben Zeitraum von 797.000 auf 2.847.000; das macht ein Plus von 257 Prozent. Wachstumssieger aber sind die 52 Fünf-Sterne-Hotels, deren Nächtigungen 2000–2019 um rund 1.500 Prozent (von 65.500 auf rund 1 Million) -stratosphärisch nach oben gingen.

Neben dem „Längenwachstum“ ging der Tourismus in die Breite – in Gestalt von qualitativer und quantitativer Erweiterung kamen unangemessene Kubaturen hinzu. Das von den x-Sternen bis zum Urlaub auf dem Bauernhof verbaute Volumen sprengt alle Maßstäbe: Zimmer, Wellness- und Spa-Bereiche expandierten, zum Stolz der Inhaber, zur Freude von Gästen, Baufirmen, Handwerkern und Banken, vielfach zum Nachteil von Natur und Landschaft.

2. Krankheitsbilder sind in vier Bereichen feststellbar: im Ausstoß von Treibhausgasen, im Ressourcenverbrauch, in Mobilitäts-spitzen und sozialen Schieflagen. Der Treibhauseffekt zeigt sich an den Emissionen von CO2, die pro Gast und Übernachtung wohl bei mindestens 25 bis 30 kg liegen. Aufs Jahr hochgerechnet wären dies gut 10 Tonnen CO2 pro Gast, während jeder Mensch in Südtirol aktuell geschätzt an die 7,5 Tonnen verbraucht. Hinzu kommt der CO2-Ausstoß bei der Bautätigkeit, sodass der Weg zu einem klimafreundlichen Tourismus trotz Vitalpina, Leitlhof und anderer Vorreiter noch weit ist. Dass der Wasserverbrauch oft alle Maßstäbe sprengt, liegt vor aller Augen. Für die fossile Motorisierung tragen, wie HGV und IDM zurecht betonen, vorab Einheimische und Schwerverkehr die Verantwortung. Aber da über 85 Prozent der Gäste im eigenen PKW oder Camper anreisen, steuern sie mehr als nur ein Scherflein zur chronischen Verkehrsthrombose bei.

Schließlich sind die sozialen Schieflagen, die der Tourismus mitproduziert, nicht zu leugnen: Wenn die IDM Südtirol zum „begehrtesten nachhaltigen Lebensraum“ Europas machen will, kann man nur rufen: Bitte nicht! Denn das „Begehren“ vieler Gäste nach Konsum und Raum trägt zum Preisauftrieb so sehr bei, dass die Südtiroler Mittelschicht und ärmere Haushalte kaum mehr mithalten können. Von den 20 Gemeinden, für die die Landesregierung kürzlich Wohnungsnot ausgerufen hat, sind 13 touristische Hochburgen: Wolkenstein, St. Ulrich, St. Christina, Abtei, Corvara, Brixen, Enneberg, Meran, Eppan, Schenna, Sexten, Kaltern, Tirol.

Gesteigert wird der Preisauftrieb durch den aktuellen Turbo der Inflation, der soziale Unterschiede weiter zuspitzt. Während sozialer Wohnbau und Wobi seit Jahren bei einem Stand von 13.500 Wohnungen blockiert sind, haben Hotels, UAB und der Zweitwohnungsmarkt lange so fröhlich expandiert, als gäbe es kein Morgen. Der „begehrteste Lebensraum“, die eigene Wohnung, bleibt für viele in Südtirol unerreichbar.

3. Fehldiagnosen: Der von Landesrat Schuler eingebrachte Gesetzesartikel zielt keineswegs auf den vielbeschworenen „Bettenstopp“, sondern ist weit eher ein Artikel der „Betten-erweiterung”, wie der in Raumordnungsfragen hochversierte Landtagsabgeordnete Riccardo Dello Sbarba zurecht betont. Der in der Gesetzgebungskommission von Landesrat Schuler eingebrachte, aber von SVP-Locher & Co. gekippte Artikel sieht keinen Stopp vor, sondern ermöglicht vielmehr nachträgliche Sanierung und dosierte Erweiterung.

Sollte der aktuell versenkte Artikel nach politischer Zangengeburt im Landtag Ende Juli doch wieder auferstehen, wird man in Südtirol nach kurzer Zeit erstaunt feststellen, dass die aktuelle Zahl von offiziell 230.000 Betten auf rund 250.000 angewachsen ist. Bisher verheimlichte Betten werden saniert, rund 7.000 neue kommen als Vorschuss hinzu und erworbene Rechte mit circa 10.000 Betten zum Zuge. Der vermeintliche Stopp wird sich im Rückblick als Bluff des Jahres herausstellen. Aber das Gespenst „Bettenstopp“ hat seine Schuldigkeit getan: Es hat bei Bürgermeistern, Bauern und Gastwirten für entrüsteten Protest gesorgt, bei der Bevölkerung hingegen für Beruhigung, denn irgendwas scheint ja doch gebremst zu werden.

Wer die Landestournee von Landesrat Schuler im Mai zum Thema verfolgt hat, konnte beobachten, wie die Empörung bei Bürgermeistern, Verbandsvertretern und Touristikern hochschwappte und die Angst vor Planwirtschaft und fehlenden Perspektiven für die Jugend aufkochte. Aber die Durchführungsbestimmungen (DFB) zum Artikel werden denkbar weichgespült ausfallen. Sie sind keine Schocktherapie, sondern gleichen der sanften Mahnung an einen Alkoholiker, statt zwei Litern Wein täglich in Zukunft eine Halbe weniger zu trinken.

4. Denkbare Therapien. Der erste Therapieschritt wäre, endlich die Wahrheit zur Kenntnis zu nehmen, die da lautet: Südtirols Tourismus ist im letzten Jahrzehnt genug gewachsen, vor allem in Ballungsgebieten, aber auch „unterentwickelte“ Bezirke wie der Vinschgau sind nicht Hungers gestorben. Südtirol verfügt im Alpenraum über die höchste Dichte an gastgewerblichen Betten (20 pro km2) und kommt etwa mit Campings, UAB oder Residences auf 31 Betten. Vielfach wurden satte Überkapazitäten produziert, wie die nahe Zukunft zeigen wird. Denn die Gästezahl wird künftig pandemie-, konjunktur- und kriegsbedingt stagnieren: Statt 33,6 Millionen gab es 2020/21 nur mehr 21 Millionen Nächtigungen, eine Rückkehr zu alten Rekordwerten ist nicht in Sicht. Die Personalnot tut ein Übriges: Trotz guter Löhne, verbesserter Bedingungen und Anwerbung sind – wie in allen Sektoren der Wirtschaft, erst recht in Gesundheit und Pflege – Arbeitskräfte auf unabsehbare Zeit rar.

5. Chancen der Behandlung: Falls dem Landtag das Wunder der Verabschiedung von Tourismuskonzept und „Bettenstopp“ doch noch gelingt, sollten nicht nur DFB folgen, sondern bald auch ein umfassendes Gesetz unter dem Titel „Tourismus und Entwicklung in Südtirol“. Es sollte Leitlinien, Entwicklungsperspektiven und Strategien festlegen und die Frage beantworten: Welchen Tourismus wollen wir, wo liegen sein Stellenwert, seine Rolle und Aufgabe für die Zukunft, wo seine wirtschaftlichen, sozialen und ökologischen Perspektiven? Tourismus ist mehr als ein Wirtschaftssektor, er ist eine Lebensfrage, die alle Menschen im Land, zudem Natur und Landschaft betrifft. Daher sollte der Entwurf nicht nur von Regierung und Landtag, von Wirtschaftsverbänden und Lobbys, sondern auch von Umwelt- und Sozialorganisationen sowie Menschen diskutiert und erarbeitet werden. Dies würde auch das wechselseitige Verständnis fördern und die Klagen über fehlende „Tourismusgesinnung“ dämpfen.

6. Der heimliche Patient aber ist die SVP: Der Zoff um LTEK und Bettenstopp ist auch ein Stellvertreterkrieg der Lobbys, der Bezirke und der Parteiobersten. Nicht zum ersten Mal, denn der Zustand des Tourismus in Südtirol spiegelte oft schon den Zustand der Mehrheitspartei: Nun suchen beide nach Richtung und Orientierung; bis jetzt vergeblich. Die Partei steht im aktuellen Konflikt vor der Alternative, sich zu sortieren oder den Kompass definitiv zu verlieren. Sonst droht statt eines Bettenstopps 2023 ein handfester Stimmenstopp.

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