Politik

„Sonderklassen sind keine Lösung“

Was sorgt für gutes Lernen? Deutsch als Familiensprache ist ein Vorteil für ein Kind, aber kein Garant für den Schulerfolg. © Alexander Alber
 

Warum gemeinsamer Unterricht wichtig ist und wie er gestaltet werden kann. Ein Gastbeitrag von Nadja Thoma.

Über Schule brauchen wir gar nicht reden, wie viele von uns schaffen es mit okayem Abschluss raus? Auf solche wie uns warten doch statistisch gesehen eher beschissene Leben als unbeschissene, oder?“

Fatih, einer der Protagonisten in Saša Stanišićs neuem Roman, der in schwierigen Verhältnissen als „Ausländer in Deutschland“ aufwächst, bringt auf den Punkt, was sozial-
wissenschaftliche Studien seit Jahrzehnten belegen: Der sozio-ökonomische Hintergrund der Familie, in der ein Kind aufwächst, hat einen enormen Einfluss auf seinen Bildungserfolg, und Eltern, die migriert sind, gehören häufig nicht zu den sozio-
ökonomisch Privilegierten. Kindern und Jugendlichen wie Fatih ist ihre Stellung in der Gesellschaft bewusst, und dieses Wissen ist alles andere als motivationsfördernd.

Analysiert man unterschiedliche Faktoren für Bildungsbenachteiligung, so zeigt sich über die Jahre, dass die sozioökonomische Lage des Elternhauses eine viel größere Relevanz als der Migrationsstatus hat. Eine schwierige sozio-ökonomische Lage bedeutet, dass Eltern statistisch über einen geringeren formalen Bildungsabschluss verfügen und ihre Kinder weniger gut beim Lernen unterstützen, dass sie sich keine Nachhilfe leisten können und sie selbst häufig negative Schulerfahrungen gemacht haben, die das Weitergeben eines guten und lustvollen Verhältnisses zur Schule erschweren.

Eltern, die migriert sind, befinden sich häufiger in sozio-ökonomisch schwierigen Situationen: Sie haben öfter Jobs mit geringen Verdienst- und Aufstiegsmöglichkeiten und ihre Bildungsabschlüsse sind in der Migrationsgesellschaft oft nicht anerkannt, sodass sich eine starke Überschneidung von Sozial- und Migrationsstatus zeigt.

Und damit wird das sprachliche Repertoire von Kindern relevant, weil Kinder aus sozioökonomisch benachteiligten Familien oft nicht Deutsch als Familiensprache haben. Möglichst gute Chancen auf eine komplexe Aneignung der Bildungssprache Deutsch haben Kinder, je früher die Deutschförderung beginnt, je länger sie dauert, je mehr sie mit fachlichem Lernen verschränkt ist, je mehr Lebensbereiche sie umfasst und je besser das gesamte sprachliche Repertoire berücksichtigt wird.

Deutsch als Familiensprache ist somit ein großer Vorteil für ein Kind, aber kein Garant für Schulerfolg: Auch mit Familiensprache Deutsch können Kinder Schwierigkeiten in der Sprachaneignung haben, etwa, wenn sie außerhalb der Schule wenige Erfahrungen machen, die für die Schulsprache förderlich sind. Andererseits bedeuten andere Familiensprachen als Deutsch nicht notwendigerweise Schwierigkeiten in der Deutsch-aneignung: Wenn Kinder in ihren Familiensprachen reichhaltigen Input bekommen und sich diese auf hohem Niveau aneignen, erleichtert das die Deutschaneignung.

Trotz dieser gesicherten empirischen Erkenntnisse kam im August die öffentlichkeitswirksame Ankündigung einer Grundschulleiterin in Bozen, Kinder entlang ihrer (zugeschriebenen) Sprachkenntnisse in unterschiedliche Klassen einzuteilen.

Die Bildungsforschung zeigt, dass die Schule soziale Ungleichheiten nicht ausgleichen und gesellschaftliche Probleme nicht lösen kann. Allerdings hat sie den Auftrag, allen Kindern unabhängig von ihren Familien möglichst gute Bildungschancen zu eröffnen, und das gelingt nachweislich am besten im inklusiven Unterricht.

Wenig überraschend stellen Studien aus verschiedenen Disziplinen den „Deutschförderklassen“, die trotz Warnungen von wissenschaftlicher Seite in Deutschland und Österreich eingerichtet wurden, einstimmig ein negatives Zeugnis aus: Punktuelle Sprachtests zu Schulbeginn, mit denen Kinder in solche Klassen einsortiert werden (falls die Zuteilung nicht einfach „nach Gefühl“ erfolgt), erfassen weder das sprachliche Repertoire noch die sprachlichen Entwicklungsmöglichkeiten eines Kindes adäquat.

Sprachaneignung ist dynamisch, und daher sind unterrichtsbegleitende sprachstandsdiagnostische Verfahren als Rahmen notwendig, um individuelle Fördermaßnahmen zu entwickeln. Zudem entwickelt sich Sprache in Interaktionen, die für Kinder bedeutsam sind. Daher spielen Gesprächsmöglichkeiten mit Gleichaltrigen eine zentrale Rolle.

In separierten Klassen entsteht die paradoxe Situation, dass von Kindern erwartet wird, dass sie möglichst schnell Deutsch lernen, dass ihnen aber durch die räumliche und soziale Trennung von Kindern, die schon besser Deutsch können, wichtige Möglichkeiten zum Lernen genommen werden. Betroffene Kinder verstehen außerdem sehr früh, dass mit einer Zuweisung zu einer „Sonderklasse“ gesellschaftliche Missachtung verbunden ist. Lernende in solchen Klassen werden von Schülerinnen aus Regelklassen als „anders“ und defizitär wahrgenommen. Das ist für die soziale Entwicklung beider Gruppen nicht ideal.

So wichtig inklusiver Unterricht für die Kinder in mehrsprachigen Klassen und damit für die Zukunft unserer Gesellschaft ist, so wenig funktioniert er „von selbst“: Die notwendigen Voraussetzungen stellen vor dem Hintergrund des akuten Lehrermangels eine bildungspolitische Herausforderung dar: Lehrpersonen aller Fächer müssen wissen, unter welchen Vo-raussetzungen sich Kinder Deutsch als Bildungssprache aneignen und wie sie diese Aneignungsprozesse in ihrem Fach fördern können. Die meisten haben das in ihrer Ausbildung nicht gelernt, und viele Lehramtsstudiengänge bereiten nach wie vor unzureichend auf Unterricht in mehrsprachigen Klassen vor. Da die aktuelle Zusammensetzung der sprachlichen Repertoires an Schulen seit Langem abzusehen war, ist das Fehlen eines Studiums für Deutsch als Zweit- und Fremdsprache an der Freien Universität Bozen nicht zu erklären.

Trotz dieses bildungspolitischen Versäumnisses haben sich viele Schulleitungen und Lehrpersonen kontinuierlich in sprachdidaktischen und migrationspädagogischen Themen weitergebildet und Konzepte für ganze Schulen oder einzelne Klassen und Kinder entwickelt – vielfach mit der Unterstützung der Sprachenzentren, die ein breites Angebot an Beratung, Weiterbildung und Vernetzungsmöglichkeiten haben.

Die bereits existierenden Kooperationen zwischen Kindergärten und Schulen, die von den Sprachenzentren koordiniert werden, sollten gestärkt und ausgebaut werden. Für Lehrpersonen sollte zudem die Teilnahme an Lehrgängen für Deutsch als Zweitsprache, etwa an der Universität Innsbruck, finanziell stärker gefördert werden. Eine entsprechende Weiterbildung kann sich nicht nur auf die Kinder, sondern auch auf die Arbeitszufriedenheit der Lehrpersonen förderlich auswirken, da sie schneller bessere Ergebnisse erzielen.

Allerdings kann die Qualität in mehrsprachigen Klassen nicht dem Engagement einzelner Lehrpersonen überlassen werden, sondern muss aktiv gestaltet werden. Schulen brauchen dafür ausreichend Planstellen für Deutschförderkräfte mit einer entsprechenden Ausbildung, und diese müssen auch wirklich für Deutschförderung eingesetzt werden.

Für eine gelingende Kooperation zwischen Bildungs-institutionen und Familien haben sich Formate bewährt, in denen auch bildungsbenachteiligte Eltern sich mit ihren Erfahrungen, Wünschen und Befürchtungen ernst genommen fühlen. Das gelingt nachweislich besser durch mehrsprachige Kommunikation.

Die Kinder einer sprachlich heterogenen Grundschule in Bozen, in der wir gerade forschen, haben unglaubliches Potenzial und große Lust aufs Lernen. Sie alle sind Südtiroler Kinder und werden später die Zukunft dieses Landes gestalten. Wir sollten sie und ihre Lehrpersonen nach Kräften unterstützen.

Nadja Thoma ist Assistenzprofessorin an der Fakultät für Bildungswissenschaften der Universität Innsbruck. Ihre Forschungsschwerpunkte sind Mehrsprachigkeit, soziale Ungleichheit und Bildung in Migrationsgesellschaften. Derzeit untersucht sie mit ihrem Team in Grundschulklassen in Südtirol die Perspektiven der Kinder und die Komplexität von Mehrsprachigkeit.

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