Wirtschaft

„Das ist saugefährlich“

Aus ff 14 vom Donnerstag, den 02. April 2020

Betrieb
Die meisten Betriebe sind bis auf weiteres geschlossen: „Mit einem Einbruch von 5 bis 6 Prozent haben wir Erfahrung, aber was darüber ­hinausgeht ...“ © Alexander Alber
 

Gottfried Tappeiner, Ökonomieprofessor an der Uni Innsbruck, über die durch Corona bedingten Nachteile Italiens. Und warum Südtirol in der Krise privilegiert ist. (Interview zur Titelgeschichte "35 Millionen jeden Tag")

ff: Welche Auswirkungen hat es, wenn man eine Volkswirtschaft für einen längeren Zeitraum in einen künstlichen Tiefschlaf versetzt?

Gottfried Tappeiner: Ehrlicherweise muss man sagen, dass es angesichts des Ausmaßes dieser Krise keine Erfahrungswerte gibt. Auch Wirtschaftswissenschaftler können da nur raten. Ich vermute, dass eine Teilsperre von eineinhalb ­Monaten, so wie man sie bis zur jüngsten Ver­schärfung in Italien erlebt hat, ungefähr so gravierend ist wie die Finanzkrise 2008. Dass nun die ganze Produktion stillgelegt wurde, die nicht lebensnotwendig ist, stellt für mich eine Zäsur dar. Das kommt einer Vollbremsung nahe. Für die international operierende ­Industrie ist das saugefährlich.

In Österreich, und noch mehr in Deutschland, ist man ­lockerer unterwegs.

Und genau das macht den Unterschied aus. Wenn alle die gleichen ­Bedingungen hätten, wäre das weit­gehend wettbewerbsneutral. Wenn aber ein Land wie Italien viel ­strengere Bestimmungen hat als andere Länder, ist die Gefahr groß, dass wichtige Kunden andere ­Lieferanten suchen. Sind diese einmal gefunden, kehrt man erfahrungs­gemäß nicht wieder zu den vor­herigen zurück. Ob dieses Herunter­fahren der Wirtschaft, dieser Shutdown, aus epidemiologischer Sicht notwendig war, kann ich nicht beurteilen. Um auch etwas ­Positives zu sagen: Ich glaube, dass eine Volkswirtschaft und insbesondere die Unternehmerschaft viel überlebens­fähiger sind als man vielfach glaubt.

Inwiefern?

Das Land Südtirol, Italien und auch die anderen europäischen Ländern basteln ja alle an Maßnahmen­paketen, die die Folgen der Pandemie abfedern sollen. Wenn man nach Ostern in der Lage wäre, die normale ­Produktion unter Beachtung der Sicherheitsregeln wieder zu erlauben und ab Ende Juni auch der Tourismus wieder in die Gänge käme, dann würde ich den Einbruch des ­Wirtschaftswachstums auf minus
3 Prozent bis minus 4 Prozent schätzen. Das wäre unangenehm, aber auszu­halten. Wenn in Südtirol aber auch noch die Sommer­saison ausfällt, besteht die Gefahr einer Kettenreaktion.

Das heißt konkret?

Man weiß nicht, wie viele Unter­nehmen – zum Beispiel im touristischen Bereich – stabil genug sind, um das durchzustehen. Wenn unsere Industriebetriebe – und in Südtirol gibt es sehr gute – in der ­Lieferkette ­länger ausfallen, dann hätten wir gravierende Probleme. Mit Wirtschaftseinbrüchen von
5 bis 6 Prozent haben wir Erfahrung. Wir wissen, dass ein solcher Einbruch einer schweren Rezession entspricht. Erfahrungsgemäß dauert es 2 bis 3 Jahre, bis man sich davon erholt. Aber was darüber hinausgeht ...

Das Wirtschaftsforschungsinstitut Ifo an der Universität München rechnet bei einem pessimistischen Szenario mit einem Wirtschaftseinbruch von bis zu minus 20 Prozent.

Minus 20 Prozent wäre ein Wert jenseits unseres Vorstellungsvermögens. Ich will mir gar nicht ausmalen, was dann ­passieren könnte. Für manche ­Bereiche würde das einen 50-prozentigen ­Einbruch bedeuten. Man muss einem solchen Szenario massiv vorbeugen, indem man alle erdenklichen Voraus­setzungen schafft, um es nicht so weit kommen zu lassen. Wir dürfen aber nicht in Schwarzmalerei verfallen. Uns muss klar sein, dass wir hier von einem ganz pessimistischen Szenario sprechen, von dem wir noch weit entfernt sind.

Wie bewerten Sie die ersten Hilfsmaßnahmen der italienischen Regierung?

Zunächst hat sie sich angesichts der fragilen politischen Zusammensetzung recht tapfer geschlagen. Die Maß­nahmen, die im ersten Paket von
25 Milliarden Euro enthalten sind, halte ich für richtig, aber natürlich reicht das bei weitem nicht aus. Ich bin gespannt, wie schnell die Verwaltung imstande ist, die im Paket enthaltenen Impulse aufzunehmen. Denn einer der Pferdefüße der italienischen Volkswirtschaft ist die juridische Überregulierung, die es zuweilen schwierig macht, Maßnahmen gut und in einem akzeptablen zeitlichen Rahmen umzusetzen.

Ist es angebracht, von einem Zustand der Wirtschaft zu sprechen, wie ihn europäische Länder in der Nachkriegszeit erlebt haben? Der italienische Industriellen-Chef, Vincenzo Boccia, spricht gar von „Kriegswirtschaft“.

Soweit sind wir noch nicht und uns fehlt wie gesagt die Erfahrung mit ­Einbrüchen über 10 Prozent. Wir haben aber Erfahrungswerte mit der Anpassung an eine gedrosselte Wirtschaftsleistung. Minus 20 Prozent entspricht ungefähr dem Wirtschaftsstand von vor 15 Jahren. Dieses Niveau wäre nicht das eigentliche Problem, ­problematischer ist ein ­struktureller Aspekt: Wenn man in einem Mechanismus einmal ein höheres Niveau ­etabliert hat, wird die An­­passung an ein viel niedrigeres Niveau sehr schmerzhaft. Man verfügt zum Beispiel über Kapazitäten und gut ­ausgebildete Arbeitskräfte, kann sie aber nicht zur Gänze nutzen.

Der Umstand, dass Italiens Staatsverschuldung 136 Prozent des Bruttoinlandsprodukts beträgt und damit bei rund 2.400 Milliarden Euro liegt, dürfte die Sache nicht leichter machen ...

Ob ein Land etwas mehr oder ­weniger verschuldet ist, macht gar nicht so einen großen Unterschied. Natürlich hat Deutschland mehr Spielraum innerhalb der alten Regelungen, doch die Schulden­grenze wurde von der EU-Kommission bereits aufgehoben, die Europäische Zentralbank hat den Aufkauf von Schuldentiteln und Unternehmensanleihen von 750 Milliarden Euro zugesagt. Wir können uns darauf einstellen, dass manches, was bisher politisch heilig war, jetzt über Bord geschmissen wird.

Die Staatsverschuldung Italiens dürfte im Zuge der Krise massiv zunehmen. Lässt sich denn ein solcher Schuldenberg überhaupt abbauen?

Doch, doch. So unendlich groß ist dieser Berg nicht. Wenn man davon ausgeht, dass Italien im Zuge der Corona-Krise soviel Geld in die Hand nimmt wie Deutschland, würde das einem Schulden­zuwachs von 10 Prozent ent­sprechen. Und ob die Staatsverschuldung nun 136 Prozent des Bruttoinlands­produkts ausmacht oder 146 Prozent dürfte angesichts der Hausaufgaben, die es jetzt zu machen gilt, sekundär sein.

Oberste Priorität ist jetzt...

... dafür zu sorgen, dass die Kredite nicht notleidend werden. Wenn Unternehmer ihre Kredite nicht mehr zurückzahlen können, gehen sie pleite – mit all den wirtschaftlichen und sozialen Folgen, die sich daraus ergeben. Hinzu kommt, dass dann auch die Banken angesteckt ­werden, weil sie Kredite als notleidend ausweisen müssen. Damit verlieren sie aber ihr Bankenrating und reduzieren ihre Refinanzierungsmöglichkeiten. Wenn in einer solchen Krise plötzlich Immobilien auf den Markt kommen, weil Banken die Besicherungen ihrer Hypothekardarlehen zu Geld machen wollen, dann gäbe es einen Einbruch der Immobilienpreise. Das war bei der amerikanischen Immobilienkrise 2008 im privaten Wohnungs­bereich der Fall. Die Änderung von Zahlungsfristen sind ein Gebot der Stunde.

Was ist mit den Fixkosten, die ­Unternehmen während der erzwungenen Stillstands haben?

Die können mitunter schmerzhaft sein, aber ein gesunder Betrieb sollte diese Spesen in drei, vier Jahren ausgleichen können, sofern die Krise nicht bis Ende des Jahres dauert. Es stellt sich noch eine andere Frage: Wie wird es mit der Nachfrage nach dem Ende des Shutdown sein? Beispiel Hotellerie: Bisher traten Seuchen auf der Erde meist nur punktuell auf. Man umging sie als Tourist, indem man einen Bogen um betroffene Gebiete machte. Doch jetzt ist die Seuche so gut wie überall. Auch wenn touristische Einrichtungen in ein paar Monaten wieder geöffnet sind: Wie werden sich die Touristen verhalten, angesichts einer europaweiten Rezession und höheren Arbeitslosigkeit?

Unterbrochene Lieferketten haben gezeigt, dass weit entfernt aus­gelagerte Produktionen ganze Industriezweige eingebremst haben. Ist es an der Zeit, wieder lokaler zu produzieren?

Ich bin mir nicht sicher, ob man in Sachen Globalisierung einen Schritt zurück machen muss. Ich gebe Ihnen Recht: In einem ersten Moment könnte das als logische Folge dieser Krise gesehen werden. Es ist sicher richtig, strategische Bereiche zurückzuholen, Stichwort Medikamente: Ihre Produktion hat man zu einem Großteil nach China ausgelagert mit der Folge, dass es keine Liefersicherheit mehr gab. Man kann im Welthandel viel ver­bessern. Wir haben bisher unverschämterweise billige und umweltfeindliche Produktionen in andere Länder ausgelagert. Das gehört schon aus ethischen Gründen ­geändert. Aber wenn man die Bedingungen für Arbeitskräfte und Umwelt fair ge­­staltet, dann steigert internationaler Handel die Wohlfahrt für alle Beteiligten. Das zeigt die weltweite Einkommensver­teilung: In den vergangenen 30 ­Jahren
hat sich das Einkommen durch die Globalisierung gleichmäßiger auf die Länder verteilt – ausgenommen solche mit ­kriegsähnlichen Zuständen. Aber: Der Wohlstand in den einzelnen ­Ländern kam nicht allen in gleichem Maße zugute.

Noch einmal die Frage: Sollte man mehr auf regionale Kreisläufe setzen?

Dort, wo diese wirtschaftlich tragbar sind, durchaus. Es gilt zu überlegen, ob man jetzt nur schnell, schnell Zuschüsse gewährt oder ob man versucht, flexiblere Instrumente zu installieren. Ich vermute, dass, je länger die Krise andauert, Summen erforderlich sind, die auch der gut ausgestattete Südtiroler Landeshaushalt nicht als Verlustbeiträge verkraften kann. Es sollte nach ersten Abfederungsmaßnahmen noch genügend finanziellen Spielraum für Konjunkturprogramme geben - ein heikles Gleichgewicht. Ein solches Konjunkturprogramm ließe sich auch für eine Green economy auflegen. Die Klimawende, um die wir uns alle herumgedrückt haben, eröffnet auch große wirtschaftliche Chancen.

Was kann uns diese Krise lehren?

Schwierig zu beantworten, denn wenn man in der Savanne plötzlich vor einem Löwen steht, schaut man nur, wo es einen Baum gibt, auf den man flüchten kann. Es fehlt in einer solchen Situation der Überblick. Ich bin mir sicher, dass wir eine ganze Menge aus der Krise lernen ­werden, Beispiel Krisenmanagement. Grundsätzlich sollten wir jetzt auch eine bestimmte Empathie für jene Menschen aufbringen, die in dieser Stresssituation Entscheidungen treffen müssen – Entscheidungen, die vielleicht manchmal gar nicht hundertprozentig richtig sein können.

Bietet diese Krise auch die Chance für neue Wirtschaftsmodelle?

Hierzu gibt es eine große Debatte, die von zwei unterschiedlichen Schulen beherrscht wird. Die eine Schule sagt: Um Prozesse anzustoßen, deren Fortgang und Erfolg noch unbekannt ist – Beispiel Energiewende – braucht man entsprechende Reserven, die nach dieser Krise aufgebraucht sein dürften. Die andere Schule sagt: Wer Reserven hat, ist faul und wird erst dann aktiv, wenn Not am Mann ist. Ich denke, dass beide Denkschulen ein wenig Recht haben.

Wie sehr muss sich Südtirol sorgen?

Mit der niedrigen Arbeitslosigkeit, die das Land vor Ausbruch der Krise hatte und dem relativ hohen Anteil an Arbeitskräften, die wir von außen geholt haben – Stichwort Saisonkräfte – sind wir in einer relativ privilegierten Situation. Eine Krise kann Verwerfungen, eine gesellschaftliche Spaltung erzeugen oder sie kann eine Gesellschaft näher zusammenrücken lassen. Im Augenblick scheint mir, dass sie eher zusammenrückt und ein Verständnis dafür schafft, dass wir in den vergangenen Jahrzehnten einem zu starken Individualismus aufgesessen sind. Das bietet mittelfristig eine große Chance, die über das Wirtschaftliche hinausreicht.

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  • Gottfried Tappeiner

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