dass Tiere Gefühle haben, ist schon lange nicht mehr umstritten. Sie können Freude, Schmerzen und auch Leid empfinden. Die Briten wollen diesen ...
Wirtschaft
Krawatten, die Taschen werden
Aus ff 19 vom Donnerstag, den 13. Mai 2021
Doris Raffeiner arbeitet mit dem Müll, den andere wegwerfen: Im „WiaNui“ in Brixen verkauft sie Lampenschirme, Taschen und Schmuck und gibt Frauen in Not und Geflüchteten eine Arbeit.
Doris Raffeiner, 53, hat zwischen Taschen und Kleidern Platz genommen und erzählt von ihrer Kindheit. Von ihrer Oma bekam sie jedes Jahr zu Weihnachten für ihren Bären „a selbogemochts Kleidl odo a Gewandl.“ Die Kleider nähte die Schneiderin aus Stoffresten zusammen. Raffeiners dunkle Augen strahlen bei der Erinnerung, ihre Hände sind ständig in Bewegung, die Beine hat sie elegant überkreuzt. Die heimelige Atmosphäre des Geschäfts, das sich in die Länge zieht, wird von ruhiger Jazzmusik unterstrichen.
So wie ihre Großmutter verwendet auch Doris Raffeiner alte Materialien. Sie macht mit ihren Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern Neues daraus. Mit ihrem Upcycling-Laden „WiaNui“ war sie eine der Ersten in Südtirol, die gebrauchte Materialien wiederverwendete und weiterverkaufte, was daraus entstand.
Hinter dem Konzept des Upcyclings steckt eine einfache Idee: Aus Alt mach Neu. Aus scheinbar Wertlosem entstehen Einzelstücke, denen ein zweites Leben geschenkt wurde. Ein altes Sakko verwandelt sich in eine Tasche, eine Werbeplane in einen Liegestuhl, Altpapier in einen Engel. Das Ziel ist, Müll zu reduzieren und bereits vorhandene Rohstoffe zu verwenden. Im Jahr 2019 wurde in Südtirol pro Kopf 421 kg Müll produziert – Restmüll, Papier, Glas, Kunststoffe.
2015 eröffnet Doris Raffeiner mit zwei Mitgründerinnen den Laden in der Brixner Stadelgasse neben dem Bio- und Weltladen. Die Eröffnung war eine Reaktion auf die Ausstellung „reusedesign“ in Brixen 2012, bei der Künstler aus der ganzen Welt ihre upgecycelten Werke ausstellten. Weil die Kunstausstellung trotz der großen Begeisterung der Bürgerinnen und Bürger zeitlich begrenzt war, wollten Doris Raffeiner und ihre Freundinnen etwas Bleibendes schaffen.
Als junge Kunstgeschichtestudentin schon durchstöberte sie Flohmärkte. Das Alte habe sein Leben gehabt, es erzähle eine Geschichte, sagt sie. Die umweltbewusste Eisacktalerin ist überzeugt: Es muss nicht immer alles zwingend neu sein. Auf Flugreisen und lange Autofahrten verzichten sie und ihre Familie. Sie fährt jeden Tag mit ihrem olivgrünen Rad zum Laden, auf dem Gepäckträger klemmt eine handgemachte „WiaNui“-Fahrradtasche. Eingekauft wird im Haushalt der sechsköpfigen Familie weitgehend plastikfrei und regional. Teil der Familie war für viele Jahre auch ein rumänisches Waisenkind, das über eine Hilfsorganisation nach Südtirol kam.
Das soziale Engagement spiegelt sich auch im Laden wider, der als Sozialgenossenschaft organisiert ist. Diese wirtschaftliche Form gibt besonders Schwächeren die Chance, Arbeitserfahrung zu sammeln. „WiaNui“ ist bisher der einzige Upcycling-Laden mit diesem Konzept in Südtirol. Die Sozialgenossenschaft arbeitet mit mehreren sozialen Einrichtungen zusammen. Die Praktikantinnen und Praktikanten leben im Brixner Frauenhaus, im Südtiroler Kinderdorf oder in der „Schenoni“-Kaserne, einer Einrichtung für Asylwerber. Ausgestellt und verkauft werden auch Arbeiten aus geschützten Werkstätten und von Künstlern aus Südtirol.
„Frau Doris behandelt uns nicht wie Angestellte, sondern wie Familienmitglieder“, sagt Suzanna, eine Praktikantin aus Tschechien, die im Frauenhaus lebt. (Anm. d. Red.: Namen geändert). Suzanna näht während des Gesprächs konzentriert Masken aus schwarzem Stoff und erklärt eifrig jeden Arbeitsschritt. Die hellblaue Schildkappe hat sie tief ins Gesicht gezogen, um ihr Gesicht zu verdecken.
Durch die geregelten Arbeitszeiten von 9 bis 12 Uhr an fünf Tagen in der Woche haben die Praktikantinnen und Praktikanten einen geregelten Tagesablauf. Während des zwei bis vier Monate langen Praktikums erhalten sie vom Land 400 Euro für 300 Stunden. Es mag wenig sein, es hilft aber trotzdem. Suzanna sucht Arbeit und eine eigene Wohnung, bei „WiaNui“ kann sie sich zumindest schon mal ein Taschengeld verdienen und ihrem Hobby nachgehen: dem Nähen. Das hat sie sich mithilfe von You-Tube-Videos selbst beigebracht.
Doris Raffeiner verdient kein Geld an der Sozialg-enossenschaft. Sie arbeitet ehrenamtlich und ist inzwischen die alleinige Inhaberin. Die Einnahmen vom Verkauf decken die Fixkosten. Was übrig bleibt, gehört der Genossenschaft. Mietbeihilfe habe man nur in den ersten drei Jahren bekommen, danach sei Schluss gewesen, sagt Doris bitter. Drei freiwillige Mitarbeiterinnen unterstützen sie beim Verkauf, die Verwaltungsarbeit erledigt sie selbst. Hauptverdiener der sechsköpfigen Familie ist ihr Mann.
Um das Upcycling auch jüngeren Generationen näherzubringen, werden Schulworkshops und im Sommer ein dreiwöchiger Workshop „Müllzauberatelier“ für Kinder angeboten. Die Zusammenarbeit mit Kindern ist Doris Raffeiner wichtig. Es geht darum, Kreativität und eigenständiges Arbeiten zu fördern. Die Kinder sollen erkennen, dass Selbstgebasteltes eine ganz besondere Bedeutung hat.
Die Eingangstür öffnet sich, kalte Luft strömt in den Laden. Doris empfängt eine Kundin so herzlich wie eine alte Freundin. Leidenschaftlich erläutert sie das Konzept des Stores. Sie kennt von jedem Einzelstück die Geschichte der Herstellung, die verwendeten Materialien. Eine Theke mit glänzenden Kettchen, Ohrringen und Ringen aus recyceltem Aluminium steht an der Wand. Gegenüber eine Kleiderstange mit bunten Blusen, Lederröcken und eleganten Hosen. Sie wurden in der Nähe von Verona aus Stoffresten von Luxusmarken von der Sozialgenossenschaft „Progetto Quid“ gefertigt. In liebevoller Detailarbeit werden dort die Einzelstücke vor allem von Frauen in schwierigen Lebenssituationen zusammengenäht.
Lessina Jiane, gelernter Schneider aus Mali, hat das Praktikum bei „WiaNui“ schon vor längerer Zeit abgeschlossen und arbeitet immer noch mit Doris Raffeiner zusammen. Sie hatte ihn und sein Talent in der Schenoni-Kaserne entdeckt, als sie dort eine Lebensmittelspende abgab. Der 39-Jährige fertigt aus Werbeplanen Taschen für Fahrräder oder zum Umhängen, Griffelschachteln und Einlagen für Liegestühle. Bezahlt wird er für seine Arbeit über einen Projektvertrag, der bei jeder Bestellung neu gemacht wird. Eine feste Anstellung wäre zu teuer. Im Herbst arbeitete er zusätzlich als Äpfelklauber. Die Passion zum Nähen kann der Schneider nur bei „WiaNui“ ausleben. Jede seiner Taschen ist ein Unikat in Größe, Farbe und Muster.
Die Werbeplanen werden vom Stadtmarketing oder von Veranstaltern abgegeben, andere Materialien und Stoffe auch von Privatpersonen. Jemand brachte einmal eine Schachtel voll mit Seidenkrawatten vorbei. Daraus entstanden Krawattentaschen: praktische Umhängetaschen mit aufgenähten Krawatten.
Vor sechs Jahren, als das Projekt anfing, fragte sich Doris Raffeiner selber voller Zweifel; „Ach, willsch des schun mochn?“ Jetzt kann sie darüber lachen. Mittlerweile kommen Kunden aus allen Alters- und Interessengruppen im Laden vorbei. Vor allem die Touristen aber fehlten in den letzten Monaten, die Coronakrise traf auch „WiaNui“ hart. Es wurde eine Zeit lang nichts produziert und verkauft, die Fixkosten Strom und Miete mussten trotzdem bezahlt werden. Im Laufe der Jahre hat sich „WiaNui“ eine Stammkundschaft im In- und Ausland aufgebaut. So konnte man bis jetzt immer kostendeckend arbeiten. Seit ein paar Monaten können einzelne Produkte auch im neu eingerichteten Onlineshop bestellt werden.
Das Angebot von „WiaNui“ passt sich den Fähigkeiten und Ideen der Praktikantinnen und Praktikanten an. Faith, 25, aus Nigeria kann nicht nähen. In ihrer Heimat musste sie ihr Studium abbrechen. Sie kam als Flüchtling nach Italien, zu Weihnachten machte sie die Weihnachtsengel aus Papier. Vor dem ersten Lockdown im März 2020 hat sie als Friseurgehilfin in Bozen gearbeitet und lebte danach in Brixen im Kinderdorf. Während sie das Papier faltet und klebt, ist die wortkarge Frau auf ihr Smartphone konzentriert. Sie lacht. Ihr Lächeln richtet sich aber nicht an uns, sondern an ihre Familie, mit der sie per Facetime redet. Ihre zwei Kinder sind in Südtirol, der Rest der Familie in Nigeria. Von der ruhigen Jazzmusik im Laden bekommt sie wenig mit.
Zufrieden lehnt sich Doris auf dem geblümten Sofa zurück und betrachtet stolz ihren Laden. Ihr ebenfalls geblümtes Kleid hebt sich vom Sofabezug kaum ab. Mit ihren rot lackierten Fingern nimmt sie die wegen der Maske beschlagene Brille ab: „Jedn Tog, wenn i do einer gea, bin i glücklich.“
Veronika Erlacher und Christine Unterhofer
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Der Gabriel-Grüner-Schülerpreis (ein Projekt von ff, Agentur Zeitenspiegel, der Bildungsdirektion des Landes Südtirol und des Bildungsausschusses der Gemeinde Mals) richtet sich an Schülerinnen und Schüler der Oberschule (4. Klasse) aus ganz Südtirol. In vier Workshops lernen sie, wie man eine Reportage in Wort und Bild verfasst. Der Preis ist benannt nach dem Südtiroler Stern-Reporter Gabriel Grüner, der 1999 im Kosovo ermordet wurde.
In dieser Ausgabe bringen wir die Reportage von Christine Unterhofer, 17, aus Lappach (unten rechts) und Veronika Erlacher, 18, aus St. Vigil in Enneberg (unten links) über das „WiaNui“ in Brixen, das Müll in Taschen, Lampen oder Griffelschachteln verwandelt. Die Schülerinnen besuchen das Realgymnasium in Bruneck. Christine sieht ihre Zukunft nach der Matura im Bereich Forschung oder Soziales, Veronika würde gerne Psychologie studieren. Sie sagt: „Im Workshop habe ich vieles gelernt, vor allem, offen auf Menschen zuzugehen.“
ff druckt in einer der kommenden Ausgaben die Siegerreportage über die harte Arbeit von Menschen, die Essen zustellen.
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