Die Fotografin Franziska Gilli arbeitet für große deutsche Medien. Sie hat einen scharfen Blick für gesellschaftliche Zustände. Jetzt wird sie mit dem Walther-von-der-Vogelweide-Preis ausgezeichnet.
Außensicht
Belästigung von Frauen: Nie sicher
Aus ff 45 vom Donnerstag, den 09. November 2023
Letztes Mal habe ich an dieser Stelle darüber geschrieben, wie schön es ist, wenn Männer lernen, Gefühle zu zeigen. Weniger schön ist es, wenn diese Gefühle ohne Rücksicht auf die Empfängerin oder in einem unangemessenen Rahmen offenbart werden. Dem kroatischen Außenminister Gordan Grlić Radman ist letzte Woche beides gelungen: Bei einem Treffen mit seinen europäischen Amtskollegen überfiel er, justament beim Aufstellen für das Gruppenfoto, Annalena Baerbock mit einem Kuss-Versuch.
Die deutsche Außenministerin konnte die Attacke gerade noch abwenden, indem sie den Kopf wegdrehte. Auf dem Gruppenfoto ist zu sehen, wie sie sich von Grlić Radman wegneigt. Dieser konnte die Empörung, die sich in den Medien über ihn entlud, nicht nachvollziehen: Er habe Baerbock lediglich „herzlich“ begrüßen wollen, man kenne sich. Als dies, zu Recht, nicht genügte, lieferte er eine klassische Nicht-Entschuldigung nach: „Wenn jemand darin etwas Schlimmes gesehen hat, dann entschuldige ich mich bei demjenigen, der das so aufgefasst hat.“
Erschütternder als die fehlende Einsicht des Ministers fand ich den Gesichtsausdruck Baerbocks: Da ist kein Schock, sondern Genervtheit, Müdigkeit, Resignation. Es ist ein Blick, den jede Frau kennt: schon wieder. Ein wenig Fassungslosigkeit ist auch dabei, dass der Mann, der hier ihre Intimsphäre missachtet, nicht davor zurückschreckt, es in aller Öffentlichkeit zu tun, ja sogar vor Kameras.
Dieser Umstand entlarvt die vermeintliche Gefühlsbekundung denn auch als Machtdemonstration: Seht her, ich erlaube mir, die deutsche Außenministerin auf den Mund zu küssen; ganz egal, ob sie das will oder nicht. Schade, dass Baerbock nicht ebenso „herzlich“ mit einem entschlossenen Griff in die Weichteile Grlić Radmans reagiert hat. Noch bedauerlicher ist allerdings die Erkenntnis, dass man es als Frau ganz nach oben geschafft haben kann und trotzdem nicht vor Übergriffen gefeit ist. Es trifft nicht nur die Kellnerin im Biergarten, es trifft auch die Spitzenpolitikerin: Wir sind nie sicher.
von Alexandra Kienzl | Kolumnistin, Englisch-Lehrerin und ehemalige ff-Redakteurin
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