Außensicht

Vitamin-Tourismus: Ewige Nacht

Aus ff 47 vom Donnerstag, den 23. November 2023

Wenn Astronomen von einem Ort erzählen, an dem es sich zu leben lohnt, sprechen sie von der sogenannten Goldilocks-Zone. Dort (und nur dort) lässt es sich aushalten, sofern man Mensch ist und keine Gaswolke. Planeten, die in diesem astronomischen Wellness-Bereich abhängen, sind per Definition warm, aber nicht brutzelig heiß, kühl, aber kein Gefrierschrank. Sie bieten Atmosphäre und dampfendes Wasser und mehr Schlamm als die Therme Meran, damit das Leben – nun ja – am Leben bleibt.

Auch Hamburg liegt, so behaupten es die Wissenschaftler, in dieser Goldlöckchen-Zone, und wer wäre ich, den Astronomen zu misstrauen. Nur eine Frage hätte ich: Wart ihr schon mal im November hier? Grad beginnt hier die elende Zeit, zum Leben absolut ungeeignet. Wenn es regnet, regnet es horizontal, und wenn die Sonne einmal herausschaut, sagt sie noch vor 16 Uhr wieder Adieu. Man sollte hier nicht leben und tut man es doch, behandelt man sich medikamentös, als wäre die ganze Stadt ein Allergen.

Eine Kollegin vom Spiegel schluckt Vitamin-D-Tabletten, den ganzen Winter lang. Bei der Konkurrenz von der Zeit, höre ich, gibt es eine ganze Bande an Redakteuren, die ihren Winterblues mit Tageslichtlampen bekämpft: künstliche Schreibtisch-Sonnen, die nur bei Stromausfall untergehen. Stille Nacht, ewige Nacht, so ist das hier, kommt bloß nicht zu Besuch.

Manchmal denke ich mir, dass Südtirols Touristiker einen verdammt einfachen Job haben könnten, wenn sie nur wollten. Warum schreibt man „5-Gänge-Soulfood-Abende“ und „Infinity Pools“ in seine Hotel-Dépliants, wenn schon die Vorstellung von Sonne jeden Hamburger wuschig werden lässt? Ein Fünf-Sterne-Haus in Vals wirbt neuerdings mit einer „Bibliothek der tausend Bücher“ und „Wort-Aufgüssen im Spa“. Sind diese Leute wahnsinnig? Das sind Beschäftigungen für den blassen Norden, keine Slogans fürs Sonnenplateau! Warum wirbt man nicht mit einem „Winter ohne Vitamin-D-Pillen und UV-Lampen“? Das ist gerade das Problem mit Goldilocks-Zonen: Wer dort lebt, hält das gute Leben im Zweifel für ein schlechtes Angebot.

von Anton Rainer | Redakteur im Ressort Wirtschaft beim Spiegel in Hamburg