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Außensicht
Deutsche Politik: Märchen aus Fernost
Aus ff 32 vom Donnerstag, den 08. August 2024
Eine Reise in die neuen Bundesländer, in diesen notorisch missverstandenen und dialektal herausfordernden Teil Deutschlands, ist fast immer lohnend. Wegen der Landschaften. Und wegen der Lektionen, die man lernt. Gerade jetzt, einen Monat vor den Wahlen in Sachsen, Thüringen, Brandenburg, wenn sich mal wieder halb Europa schockiert über eine bläulich gefärbte Landkarte beugt, sind Besuche besonders lehrreich. Weil man – zum Beispiel im Urlaub, schnaufend auf dem Fahrrad, quer durch Mecklenburg-Vorpommern – Märchen entlarven kann, die über den Osten erzählt werden und manchmal auch von ihm.
Da wäre das Märchen von der „Politikverdrossenheit“. Allerorten wird sie beklagt und verantwortlich gemacht, für Männer, die ihr Kreuz bei Faschisten machen, weil sie sich sonst nicht mehr zu helfen wüssten und zu sprechen trauten. Dann aber fährt man hin und sieht statt Verdrossenheit geradezu verschwenderisch viel Politik: In einem Dorf hängen da schon mal mehr Plakate an Privathäusern als an der gesamten BBT-Route. Gegen Windkraft oder Transit, für Putin oder LGBTQ, für jeden ist etwas dabei. Die Menschen lieben Politik, sie hassen nur Parteien.
Da wäre zweitens das Märchen von der „maroden Infrastruktur“. Wenn es sie gibt, ich habe sie nicht gesehen: Nie in meinem Leben fuhr ich auf glatteren Radwegen als auf dem Weg nach Usedom oder Dresden, und der Kontrast zu meinem 16 Jahre alten Reiseführer wurde immer größer: Viele Feldwege von damals sind jetzt asphaltiert – und viele Gasthäuser von damals verrammelt. Weil die Straßen da sind, aber die Leute fehlen. So handelt das dritte Märchen vielleicht von der „rechten Übermacht“: In vielen Orten sind nicht die rechten Menschen das Problem, sondern die wenigen. Und geklagt wird nicht über Over-, sondern Undertourism. Vielleicht weil die Anreize fehlen? Wer in Südtirol eine Gästecard erwirbt, wird behandelt wie ein Fürst. Wer in Mecklenburg-Vorpommern Kurtaxe bezahlt (bis zu 5,40 € pro Nacht und Nase), erhält dafür auch mal nur eine „halbe Stunde an einem PC in der Stadtbibliothek“. Der Mittelweg wäre märchenhaft.
von Anton Rainer | Stellvertretender Leiter des Ressorts Kultur beim Spiegel in Hamburg
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