Außensicht

Reiselust: Bon Voyage

Aus ff 15 vom Donnerstag, den 10. April 2025

Belauschte Zuggespräche, das ist ein ganz eigenes Genre. Wobei „belauschen“ das falsche Wort ist, vielmehr ist man ihnen meist hilflos ausgesetzt: Anders als die Augen kann man die Ohren ja nicht willentlich verschließen und somit Informationen, die man lieber nicht empfinge, von sich fernhalten.

Andererseits erfährt man als Zugreisende unverhofft auch total Wissenswertes: Ich habe schon geheime Schwangerschaften, Affären, politische Intrigen mitbekommen, obwohl ich eigentlich nur ein bisschen dösen wollte. Der ratternde Rhythmus des Schienenverkehrs lockert wohl das Mundwerk und schaukelt sanft das Hirn in seinem Liquor, sodass sich unvermutet verbale Schleusen öffnen, wo sonst Zurückhaltung herrscht. Ich vermute, wäre ich letzte Woche in einem bestimmten freccia gesessen, ich wüsste über die Details der Autonomiereform Bescheid.

Im Zug, da ist man ganz nah am Volk, und den Zuggesprächen zufolge macht das Volk vor allem eines: Es reist. Links und rechts ging es um Urlaub, um absolvierte und angepeilte Reiseziele. Exotische Orte wurden in den Waggon geworfen mit einer nonchalanten Weltmenschigkeit, als ginge es um Pufels, Tschötsch, Ratschings. Japan, Vietnam, Budapest und Mykonos: alles schon gesehen oder im Programm. Mir wurde schwindelig, Fadscham ergriff mich: Wann war ich eigentlich zuletzt irgendwo gewesen, wo weder Deutsch noch Italienisch gesprochen wurde? Die Finger an beiden Händen mussten da schon alle herhalten, um die Jahre abzuzählen.

Umgeben von Kosmopoliten, die beständig ihren Horizont erweiterten, saß ich Provinzmuffel also in der ewig gleichen Soße. Schon wollte ich mich erheben und frühzeitig aussteigen, um der Demütigung ein Ende zu setzen, da nahm das Gespräch eine Wende: Vom Auslandsgeschwärme ging’s nahtlos über zum Ausländerbashing. Und siehe da: Auch für Reisefreaks sind Ausländer nur im Ausland okay. Sie selbst sind auf Reisen ja offenbar eine andere Art von Ausländern. Ich war beruhigt: Weitgereist sein und trotzdem engstirnig bleiben, das geht sich aus. Vielleicht habe ich gar nicht so viel verpasst.

von Alexandra Kienzl | Kolumnistin, Englisch-Lehrerin und ehemalige ff-Redakteurin

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