Wir und das Coronavirus: Was die Pandemie mit uns macht. Titelgeschichtein ff 11/20
Flaneid
Eingeschlossen, ausgeschlossen
Aus ff 12 vom Donnerstag, den 19. März 2020
Trotz Quarantäne, Hygienevorschriften und Abstandsregelungen hört das Leben nicht auf. Auch die Politik nicht.
Allzeit Flanaa-heid!“ Bürgermeister Daniel Grüner war nicht so begeistert, dass er von seiner Gemeindehymne geweckt wurde. Es klang nicht nur scheußlich, weil die meisten -Flaneider gar nicht singen konnten. Text und Melodie stammten aus der Feder des einstigen Dorfschullehrers Athanasius Schmalzl und klangen ebenso. Aber heutzutage wollten halt alle von ihrem Balkon aus gegen die Seuche ansingen, um sich ein bisschen gute Laune anzulügen.
Außer der guten Laune fehlte Grüner nichts, gesundheitlich wenigstens. Aber da war das Gefühl der Machtlosigkeit. Grüner war Bürgermeister. Gut, praktisch gesehen war er Olga Klotz unterstellt, der regierenden Vizebürgermeisterin. Aber vor den Leuten konnte er sich immer noch als Dorfoberhaupt zeigen. Wenn er sich zeigen konnte. Scheiß-Virus!
Einkaufen durfte man ja noch. Aber ein Single brauchte das nicht so oft. Der Müllsack wurde auch nicht so schnell voll, um täglich zur Tonne zu gehen. Und für einen regelmäßigen Besuch der Apotheke war er zu jung. Und das Gasthaus Unterganzner war gesetzlich geschlossen.
Klotz müsste sich eigentlich melden, tat sie aber nicht. Um sich auf dem Laufenden zu halten, rief er im Rathaus an und fragte, was dort los sei. „Gar nichts“, antwortete seine Sekretärin, „wir sind alle daheim in Telearbeit.“ Recyclinghofwärter Fritz Abfalterer fragte per E-Mail, wie er von daheim aus den angelieferten Müll digital trennen sollte. Der Wille war jedenfalls da. Aber Klotz rief nicht an.
Würde das politische Geschehen trotzdem stattfinden, aber unter Ausschluss von Öffentlichkeit und Bürgermeister? 4 Meter. Da – ein Hoffnungsschimmer! – klingelte das Telefon. Es war zwar Theresia Wiedersacher von der Opposition, aber in seiner Situation nahm er mit allem Vorlieb. „Das geht so nicht, Bürgermeister!“, protestierte sie. „Wegen eines Virus kannst du doch nicht den Gemeinderat abschaffen! Wir sind das Herz der Demokratie!“ „Nein, Resi, so war das nicht gemeint. Ich habe nur die nächste Sitzung ausgesetzt. Da gibt es einschlägige Bestimmungen, weißt du.“ Eigentlich hatte er die Verordnung gerne unterschrieben, denn damit riss er die ganze Macht an sich. Theoretisch wenigstens. Er versprach Wiedersacher baldige Abhilfe: „Vielleicht kann der Gemeinderat ja telematisch diskutieren, die Angestellten arbeiten ja auch von daheim aus. Etwas finden wir schon.“ Er freute sich über seine Idee, hatte aber noch keine Idee, wie er sie umsetzen sollte. Aber er hatte jetzt einen Grund, Klotz anzurufen und sie ganz nebenbei nach dem Stand der Dinge zu fragen.
„Das geht nicht“, sagte Klotz, noch bevor sie über seinen Vorschlag nachdachte. Dann hängte sie auf. Grüner war verzweifelt. Er musste selbst nachsehen, er musste, unter Gefahr für Leib und Leben, ins Dorf. Atemmaske hatte er keine, aber ihm fiel sein Faschingskostüm ein, das er vor drei Jahren getragen hatte: Ein Plastikkübel mit Visier als Helm und ein gepolsterter Mechanikeroverall mit ein paar Nasa-Aufnähern.
Das Gasthaus Unterganzner hatte die Vorhänge zugezogen, aber wenn man das Ohr an die Tür hielt, konnte man die eine oder andere Stimme vernehmen. Drinnen saß – verteilt auf mehrere Tische – der Gemeindeausschuss von Flaneid. Und er verstummte sofort, als ein Astronaut das Lokal betrat. „Kommen sie uns jetzt holen?“, bangte Kulturassessorin Klara Teutsch. „Was tut ihr da?“, fragte der Bürgermeister und nahm den Kübel vom Kopf. „Irgendwo müssen wir uns ja versammeln“, antwortete Olga Klotz, „der Gemeindeausschuss ist das Herz der Demokratie!“ „Und warum bin ich nicht eingeladen?“, fragte Grüner. Klotz fiel eine Antwort ein: „Damit du glaubwürdiger leugnen kannst, falls die Polizei fragt.“
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