Südtirol im Krisenmodus: Wie wir gegen das Virus kämpfen. Titelgeschichte in ff 12/20
Flaneid
Vor der Zeit danach
Aus ff 14 vom Donnerstag, den 02. April 2020
Die Krise war noch da. Aber es war Zeit, sich Gedanken zu machen. Und für manche war morgen schon gestern.
Siehst du mich?“, fragte Olga Klotz. Daniel Grüner nickte und sagte „Bschfffzzz.“ Klotz, die regierende Vizebürgermeisterin, bemühte sich, den Bürgermeister in die Videokonferenz hereinzuholen. Oder sie tat wenigstens so. Trotz Verbot durch Gesetz und Bürgermeister traf sich der Gemeindeausschuss weiterhin im Gasthaus Unterganzner, bei Kerzenlicht, mit zugezogenen Vorhängen und mit jeweils einem Tisch Abstand. Und vor allem: Ohne Bürgermeister, den sie in sanitärer wie politischer Isolation halten wollten. Sie riskierten nur eine Ansteckung, er den Absturz.
„Du hast das Mikrofon in einem magnetischen Feld“, sagte Klotz. Grüner hielt die Handfläche nach oben und alle Fingerkuppen aneinander und bewegte danach die Hand auf und ab: das italienische Fragezeichen. Und sagte: „Bschfffzzz.“ Klotz verstand trotzdem: „Was weiß ich, was du daheim für einen Puff hast! Schau halt.“ Moralisch gerechtfertigt von den Problemen der Technik schaltete sie den Bürgermeister wieder aus der Konferenz. Nun war der Ausschuss bereit für wichtige Beratungen.
Kulturassessorin Klara Teutsch prüfte, ob das Poster vom Herrgottswinkel hinter ihr noch hielt. Alle hatten ein eigenes Hintergrundbild mitgebracht. Für den Bürgermeister sollte es ja nach daheim aussehen. Am meisten beneidet wurde Finanzassessorin Hedwig Helfers weißes Tuch mit der gestickten Inschrift „Home sweet Homeoffice“.
„Einen Tee?“, protestierte Sozialassessorin Milli Minder. „Trink, ist gesund“, antwortete Wirt -Coelestin Unterganzner. Alle bekamen das gleiche, die Auswahl war nicht groß, nachliefern lassen durfte der offiziell geschlossene Betrieb ja nicht.
„Und? Habt ihr euch schon Gedanken gemacht?“, fragte Unterganzner und erwartete sich Großartiges. Ein Hilfspaket für notleidende Betriebe, Unterstützungsmaßnahmen zur Erhaltung der Marktposition, Überbrückungskredite zur Stützung des Arbeitsmarktes oder wie die derzeitigen Umschreibungen für „Geld“ sonst noch hießen. Unterganzner war als Besitzer aller 14 -Flaneider Hotels auch ein umtriebiger Bauherr.
Hedwig Helfer verstand auf Anhieb: „Geld haben wir keines.“ Unterganzner sah drein, als überlegte er sich, den Tee wieder abzuräumen. „Geld nicht, aber andere Möglichkeiten“, beeilte sich Klotz, eine Idee anzudeuten. Sie schob den Vorhang beiseite und sah Pfarrgemeinderatsvorsitzende Rosl Kranz, die mit einer Rolle Klo-papier aus dem Laden kam. Sie hamsterte nicht, sie kaufte Ausreden für tägliche Ausritte aus der häuslichen Isolation. Weiter hinten auf dem Hauptplatz fuhr Gemeindepolizist Ernst Putz mit ausgestreckter Hand zwischen zwei Flaneiderinnen, die im gefühlten Abstand von nur 93 cm miteinander redeten. Und von Balkon zu Balkon diskutierten zwei frischgebackene Hausmänner, wie man eine Herdplatte fachgerecht einschaltet.
Klotz forderte die anderen auf, auch nach draußen zu schauen: „Seht ihr? Lange halten unsere Leute das nicht durch.“ „Das interessiert mich nicht“, sagte Unterganzner, „ich will etwas von Wirtschaftsmaßnahmen hören.“ „Wir denken das gleiche“, antwortete Klotz, „zum Beispiel an die Bauwirtschaft.“ Unterganzner verstand noch nicht.
Eine zusätzliche Belastung für die Bevölkerung waren die täglichen Videobotschaften ihres Bürgermeisters, in denen er auch einzelne Mitbürger wegen Nichteinhaltung der Ausgangssperre an den Pranger stellte. Aus der Sicht des Ausschusses eine gute Aktion, da sich Grüner damit immer unbeliebter machte.
Klotz rief Grüner an und gab ihm wieder einen Fall zum Anprangern durch. „Du, weil du grad dran bist: Wir haben bei der Videokonferenz auch über die Zeit danach gesprochen. Die Leute tun sich einfach schwer, die Abstände einzuhalten. Wir brauchen ein breiteres Dorf.“
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