Flaneid

Das Leben danach

Aus ff 15 vom Donnerstag, den 09. April 2020

Nichts war los im Dorf. Ein Vorgeschmack auf die Zukunft. Für Klotz ein Anlass, sich über den Sinn des Lebens Gedanken zu machen.

Nicht einmal den Bankomat haben sie gesprengt, fiel Olga Klotz auf. Die regierende Vizebürgermeisterin saß – illegal und ohne Wissen des Bürgermeisters – zusammen mit den anderen Gemeindeausschussmitgliedern im Gasthaus Unterganzner, wo sich schon immer die Politik abgespielt hatte. Bei geschlossenen Vorhängen und Kerzenlicht.

Wenigstens die Sicherheitsfrage schien durch die Coronakrise gelöst zu sein. Einbrecher in Wohnungen gab es keine, seit alle daheim waren, und Einbrüche in Geschäfte und Banken wurden durch die Präsenz der Carabinieri vereitelt. Das war auch so ein Novum, denn seit die Gemeinde sich vor Jahren geweigert hatte, die Miete für die Carabinierikaserne zu übernehmen, wurde die Waffengattung im Dorf nicht mehr gesehen. Jetzt waren sie wieder da, und die Flaneider waren einerseits froh, wegen der Verbrechensstatistik, andererseits verärgert, wegen der Coronakontrollen.

Mit Blick auf die angekündigte Lockerung der Ausgangssperren fand Klotz, dass sich die Sicherheitssituation also verbessert hatte. Das Leben würde zwar weiter eine lange Weile mit Halbgas fahren, aber wenigstens dieser Aspekt war eine Verbesserung. Lustig würde es aber noch lange nicht werden, vielleicht sogar nie wieder.

Draußen liefen alle mit Masken herum. Sie befolgten also schon die neue Verordnung, stellte Klotz fest. Faneid sah aus wie ein japanisches Dorf. Dort hatten sie schon seit ewig Masken an und waren alle brav und folgsam. Langweilig! Hierzulande gab es Ausbrecher und zum Glück auch den Bürgermeister, der mit seinen Videobotschaften die Bürger maßregelte und sich so um Stimmen brachte. Klotz schaltete rechtzeitig den
Youtube-Kanal ein. „Liebe Flaneiderinnen und Flaneider“, sprach Daniel Grüner, derzeit Dorf-oberhaupt in selbstgewählter Quarantäne, „wir stehen das nur durch, wenn wir alle zusammenstehen, äh, nein, das darf man ja nicht, also zusammenhalten …“. Klotz klatschte sich auf die Schenkel. Und wechselte Kanal.

„Fasten heißt, auf etwas zu verzichten, damit man den Blick auf das Wesentliche …“. Pfarrer Elmar Kaslatter stimmte seine Pfarrkinder aus sicherer Entfernung auf den Karfreitag ein. „Und wieder ein Volltreffer!“, grinste Klotz. Als ob die Flaneider derzeit nicht schon auf genug verzichten würden! Musste man ihnen ausgerechnet jetzt eine Moralpredigt halten? Und das noch mit abgekochten Standardsprüchen! Seit man sich vom Händedruck verabschieden musste, war die Liebe zum Nächsten platonisch geworden. Höchstens eine Geldspende ging sich noch aus, aber Geld war etwas, was die Leute in Krisenzeiten lieber für sich behielten.

Machte die Krise die Menschen besser, legte sie Qualitäten offen? Schmarrn, dachte Klotz. Jeder tat halt, was noch ging, und niemand wusste, wie es ausging. Diese Aussichtslosigkeit nervte Klotz gewaltig. Sie war es gewohnt, Entscheidungen zu treffen und die Lage im Griff zu haben. Mit Moralvorstellungen konnte sie jetzt herzlich wenig anfangen.

Das einzige, wo sie weich wurde, war der Gedanke an die Toten, die nicht mehr von ihren Verwandten Abschied nehmen konnten. Das würde ihr nicht passieren. Sie war Erbtante! Die Nichten und Neffen, die sie ihren Lebtag lang nicht gesehen hatte, würden sich um ihr Sterbebett scharen. Aber, halt, das ging nicht, wegen der Ansteckungsgefahr. Sie würden anrufen. Ja, das würden sie. Und Klotz würde auch das noch überleben! Sie spielte mit dem Abschaltknopf ihres Handys, nur für den Notfall, falls es dereinst soweit sein würde. Dann entschied sie, was das Leben wirklich lebenswert machte. All die Dinge, die von den Predigern als unwesentlich hingestellt wurden. „Wirt“, rief sie, „hast du noch eine -Flasche Schampus da?“

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