Flaneid

Der Aufstand

Aus ff 17 vom Donnerstag, den 23. April 2020

Die Luft wurde dünn, die Bürger wollten sich nicht mehr vermummen und einsperren lassen. Der Gemeindeausschuss musste ein Opfer bringen. Und tat es gerne.

Tu das nicht, Dolly!“ Dolores „Dolly“ Pupp ließ sich von ihrem Freund nicht aufhalten. Er war Mechaniker, er durfte. Sie war Friseurin, durfte derzeit niemandem in die Haare geraten. Sie wollte raus, einfach so und ohne Grund.

Sie ließ die zwei mit Nylonsäcken gefüllten Nylonsäcke, die sie bei ihren ausgedehnten Spaziergängen als Einkaufstarnung immer mitnahm, links liegen und ging nach draußen. Sollten sie sie doch erwischen! Sie würde dann schon sagen, was sie von den ganzen Verboten hielt. Mindestens die Damen im Dorf würden zu ihr halten, besonders die, die im öffentlichen Leben standen und für Videokonferenzen ein Kopftuch aufsetzen mussten.

„Die Dolly ist wieder unterwegs, diesmal ohne Ausrede“, meldete Sozialassessorin Milli Minder, die den Hauptplatz durch einen Vorhangspalt vom Gasthaus Unterganzner aus überwachte. Olga Klotz, die regierende Vizebürgermeisterin, zuckte mit den Schultern: „Ihr Risiko.“

Der Flaneider Gemeindeausschuss war wieder illegal versammelt. Man hielt zwar die Abstandsregeln ein, sonst aber nichts. Die Sitzung fand unter Ausschluss der Öffentlichkeit und des Bürgermeisters statt, der daheim vor dem Virus zitterte und das Volk mit Videobotschaften zur Disziplin ermahnte. Wenn die Epidemie auch eine positive Seite hatte, so war es die sinkende Beliebtheit des Bürgermeisters, die man hoffentlich auch bei den nächsten Wahlen bemerken würde.

„Jetzt ist sie stehengeblieben“, berichtete Minder wieder, „sie tut irgendwas mit ihrem Handy.“ „Na und?“, fragten Klotz und Kulturassessorin Klara Teutsch gleichzeitig.

„Oha, da braut sich etwas zusammen“, meldete sich Finanzassessorin Hedwig Helfer, „meine WhatsApp-Gruppe ruft zu einer Versammlung auf dem Platz auf. Sie wollen diese Verbote nicht mehr.“ „Das ist illegal!“, rief Teutsch. „Und wir, was sind wir?“, antwortete Klotz.

Helfer las weiter aus der Nachricht vor: „Sie wollen dann in die Kirche und – ins Gasthaus!“ „Ins Gasthaus?“, fragte Klotz und verlor im Nu ihre Gelassenheit. „Von mir aus“, sagte Coelestin Unterganzner, der Wirt, der durchaus ein paar Gäste mehr vertragen konnte. „Du verstehst das nicht!“, herrschte ihn Klotz an. Wenn das Volk ins Gasthaus, das von Gesetzes wegen geschlossen war, eindrang und sah, dass sich die Politiker selber nicht an die Gesetze hielten, war das der Supergau!

„Natürlich versteh’ ich das“, antwortete Unterganzner, der selber nachgedacht hatte. Dann grinste er böse: „Gut, aber wenn ich nicht aufmache, ist eine große Baugenehmigung fällig.“ Klotz würgte die Drohung hinunter und antwortete gefasst: „Lieber zwei kleine, das fällt weniger auf.“

Mit kühler Gefasstheit setzte sie auch die nächsten Schritte zur Abwendung dieser vielleicht größten Krise Flaneids seit der Wahl Daniel Grüners zum Bürgermeister. Sie rief Gemeindepolizist Ernst Putz an: „Bei dem Wetter wollen alle am Seeufer spazieren. Du setzt dich am besten in ein Tretboot und überwachst alles.“ Nicht auszudenken, wenn Putz auf den Hauptplatz gelangte und Anzeige erstattete. Das ganze Dorf würde unter Quarantäne gestellt. Und dann war noch ein Anruf zu tätigen.

Daniel Grüner fühlte sich geehrt, in der höchsten Not gerufen worden zu sein. Doch sein Stolz musste der Verachtung anderer weichen. „Ich reiß dir die Maske herunter und spuck dir ins Gesicht“, rief einer, der nicht vermummt war, Schluss mit den Verboten!“ Er wurde von der Meute bis vor seine Haustür verfolgt.

„Die Luft ist rein, es ist alles noch einmal gut gegangen“, sagte Minder und schob den Vorhang wieder zu. „Ja, doppelt gut“, sagte Klotz, die um zwei Ecken weiter dachte.

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