Flaneid

Das Ende vom Anfang

Aus ff 23 vom Donnerstag, den 10. Juni 2021

Leben und Wirtschaft kamen wieder in Schwung. Die Sonne schien hell, der Aufschwung schien endlos. Doch einige waren auch damit nicht zufrieden.

Coelestin Unterganzner lächelte zufrieden. Sein Gasthaus war wieder voll und nicht mehr nur über den Hintereingang zugänglich, der während des Lockdown den Dorfgewaltigen vorbehalten war, damit sie sich dort abseits von Bürgern und Bürgermeister (der auch nicht dazu zählte) treffen und das Dorf lenken konnten. Die Deutschen waren wieder da, das war der Gradmesser. Italienische Touristen gab es schon auch, aber die wurden von der Flaneider Tourismuswirtschaft noch nicht als systemrelevant eingestuft. Nichts mehr konnte Unterganzner die Stimmung vermiesen.

Außer Hermann Treter. Der Sportvereins-präsident betrat das Unterganzner und stellte leichtfüßig, aber schwerwiegend fest: „Es täte wieder einen Lockdown brauchen. Da draußen findest du ja keinen Parkplatz mehr.“ Das war hoffentlich ein Scherz, dachte Unterganzner. Aber dann meldete sich Kulturassessorin Klara Teutsch: „So gesehen hast du recht.“ Unterganzner schaute nervös zum Tisch des Gemeindeausschusses, und dort nahm das anscheinend niemand als Scherz. Auch Bürgermeister Daniel Grüner, der an einem anderen Tisch saß, schien zu grübeln: Wie die Mehrheit seines Volkes wohl dachte, wie er das umsetzen könnte, welche Möglichkeiten als Bürgermeister er wohl hatte … Unterganzner konnte plötzlich Gedanken lesen und ihm wurde fast übel dabei.

„Ja, spinnt ihr denn alle“, entfuhr es ihm, „jetzt, wo es endlich losgeht? Wir haben einen Ausfall aufzuholen!“ „Ja, schon“, antwortete Treter, „aber müssen die Deutschen alle auf einmal kommen? Da ist ja kein Platz mehr für uns.“ „Merkel allein zuhaus?“, fragte Teutsch, wirklich im Scherz. Aber keiner lachte.

„Diese Gaffer“, trug auch Schützenhauptmann Karl Treffer seines bei, „sie glauben, sie können hier alles knipsen, auch unsere heiligsten Traditionen!“ „Du bist wohl neidisch, weil sie bei der Fronleichnamsprozession lieber die Carabinieri in Paradeuniform fotografiert haben statt euch“, stänkerte Treter. „Lass’ ihn in Ruhe, wir sind ein inklusives Lokal“, sprang der Wirt zugunsten Treffers ein, in der Hoffnung, ihn umzustimmen. Vergebens.

Der lange Lockdown hatte Zeit zum Nachdenken gegeben, und manche hatten länger nachgedacht, als sie es vertrugen, über den Sinn des Daseins, über das Mehr, das weniger war, über die Notwendigkeit der Geschäftigkeit ... Es waren Propheten auf den Plan getreten, die von den Vorteilen der Katastrophe redeten. Jedenfalls war, nach dem Ende der staatlichen Obhut über das Leben der Bürger, nicht alles so, wie es einmal gewesen war.

„Unterm Lockdown haben die Eltern noch gewusst, wo die Kinder umgehen“, meinte Pfarrgemeinderatspräsidentin Rosl Kranz. Vor ihr auf dem Tisch lag ein Flugblatt eines neuen „Vereins der lobbyfreien Flaneider“, die mit dem Tourismus abrechneten: keine Parkplätze, überfüllte Badestrände, hohe Preise und „immer wieder auf der Straße diese blöden Fragen beantworten“.

Emma Ladinser, Gemischtwaren, hielt eine Erhebung angebracht, ob es nun mehr Umsatz wegen der Touristen oder weniger wegen der Flucht der Einheimischen in die Einkaufszentren gab.

Mit Schrecken sah Unterganzner, wie Bürgermeister Grüner die Diskussion aufmerksam verfolgte. Würde er wirklich diesen Bremsern aufhorchen?

Der Wirt fasste sich ein Herz und erklomm einen Stuhl in der Mitte des Lokals. Dann wurde er nachhaltig: „Dieses Land gehört nicht uns. Wir haben es nur von den Deutschen geliehen.“ Das klang nach einem Spruch der Hopi-Indianer, den alle schon irgendwo einmal gehört und für weise befunden hatten. Einer nach dem anderen fing an zu nicken. Auch der Bürgermeister. Unterganzner wischte sich die Schweißperlen von der Stirn. Die Gefahr schien gebannt.

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