Das Coronavirus mutiert weiter. Die Variante Delta kam mit Tourismuspersonal nach Südtirol. Und zeigt, wie fragil der Aufschwung immer noch ist.
Flaneid
Der Sinn der Freiheit
Aus ff 25 vom Donnerstag, den 24. Juni 2021
Alle wollten sie, aber nicht alle waren sich einig, was sie bedeutete, wozu sie gut und was sie wert war.
Endlich atmen!“, sagte Pfarrgemeinderats-präsidentin Rosl Kranz, als sie aus der -Kirche getreten war, und riss die Maske herunter, die im Freien nicht mehr sein musste. Das Atmen fiel ihr dennoch schwer, denn es hatte 34 Grad. „Extra ecclesia nulla salus“ – der Spruch, der einst Abtrünnigen gegolten hatte, galt nun der Gesundheit. Die Coronazeit hatte als unerwünschte Nebenwirkung einen Stau bei den Hochzeiten verursacht, die als verbotene Massenansammlungen galten, zumindest die moralisch einzig gültigen mit Hochzeitsmahl, Brautstehlen, Jahrgangs- und Vereinsständen. Und nun, als es wieder erlaubt war, pressierte es: Es galt, blöde Fragen und Frühgeburten zu vermeiden.
Dolores „Dolly“ Pupp, Flaneids Friseurin, kam gerade vom Heiraten und erkannte ihren Mann nicht mehr. „Hallo Dolly“, sagte ihr Siegfried, zu jeder, aber nicht zu ihr. Er hatte zunächst die Sport-fischer mit dem Flaneider Bayern Fanclub verwechselt, wollte aber nicht schuftig sein und trank auch an deren Stand ein Glas mit. Dann kamen die Kellerfreunde und sein oder ein Jahrgang. Dolly wollte ihn einholen und wurde von den Marketenderinnen aufgehalten, zu denen eine andere Braut des Tages gehörte. Ein weiteres Schnäpschen wurde von den Kolleginnen vom Friseur-salon verabreicht, ein drittes vom Volleyclub eingeflößt. Und am Ende erkannte Siegfried seine Dolly nicht mehr.
Lange bevor es zum Mahl und zur Hochzeitsnacht kam, mussten Brautleute und ihr Gefolge durch ein Dickicht von Ständen hindurch – so wollte es die Tradition. So aber wollte es Ernst Putz nicht, der Gemeindepolizist, der für Ordnung und die Einhaltung der Coronaregeln zu sorgen hatte: Im Getümmel war die Maske weiter Pflicht. Er wurde feuchtfröhlich überhört.
„Die Leute wollen halt wieder feiern“, stellte Schützenhauptmann Karl Treffer aus sicherer Distanz – am Fenster im Gasthaus Unterganzner – fest. Er hatte die neue Freiheit bereits vor einer Woche von seinen Mannen durchproben lassen, mit einer Übertragung der EM auf TV-Leinwand. Sie waren im Abstand von 2 Metern gesessen, hatten diszipliniert geklatscht (bei Toren Österreichs etwas mehr) und waren dann bierlos heimgegangen. „Es geht doch“, versuchte er seitdem, anderen potenziellen Veranstaltern etwas Mut einzureden, traf aber stets auf Skepsis. „Das war nur die Generalprobe“, pflegte er darauf zu antworten, „die grenzenlose Freiheit, die Vergeltung der Schmach, der Sieg gegen die Unterjochung, die kommen am Samstag!“ Italien-Österreich, im Achterlfinale.
„Unter Freiheit versteh‘ ich etwas anderes“, raunzte Hydrauliker und Handwerkerobmann Seppl Rohrer, „wenn es wieder aufwärts gehen soll, muss endlich Schluss sein mit der Zettelwirtschaft! So kommt man ja nicht zum Arbeiten.“ „Der Draghi hat versprochen, dass die Zettel wegkommen“, wusste Kaufleuteobmann Helmut Kramer. „Heißt das, dass du dann gleich kommst, wenn ich dich brauche, und nicht erst nach sechs Monaten?“, fragte Coelestin Unterganzner, der Wirt. „Trottel!“, war die Antwort.
Der Gemeindeausschuss saß vollzählig, das heißt, zu fünft, an einem Tisch, und das war knapp mehr, als bis vor kurzem noch erlaubt war. Das war die einzige neue Freiheit, die er auskostete, da er die Bürger nicht auf dumme Gedanken bringen wollte. Sie waren zu lange eingesperrt gewesen und wollten nun die totale Freiheit.Unterganzner wollte die Freiheit zweifach genießen. Zum einen, indem er nach Mitternacht ausging, zum anderen, indem er auf einem Transparent eine neue Freiheit forderte: „Weg mit den Bauleitplänen!“
Der Protestant wurde kurzerhand in den Hochzeitständen ertränkt, die noch bis tief in die Nacht ausschenkten. Das Mahl würde morgen stattfinden, die Hochzeitsnacht vielleicht am Wochenende.
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