Flaneid

Die deutsche Frage

Aus ff 39 vom Donnerstag, den 30. September 2021

Die Flaneider Parteien analysierten das Ergebnis der Bundestagswahl unter besonderer Berücksichtigung der Wintersaison.

Die Deutschen haben sich vor der Wahl gedrückt“, urteilte Max Minder, Obmann der Bürgerliste Harpf, „das ist kein Ergebnis!“ Die Obmänner der vier regierenden Flaneider Bürgerlisten – je eine für die Gemeindefraktionen Harpf, Kipf, Zepf und Töpf – waren im Gasthaus Unterganzner versammelt, um die Bundestagswahl zu analysieren und Lehren daraus zu ziehen. Sie waren sich einig, dass es in der Politik immer nur um das eine ging, und was dieses eine war, wollten sie ergründen. „Da weiß man jetzt nicht, wer jetzt Kanzler wird“, pflichtete ihm der Kipfer Obmann bei. „Das heißt für uns nix“, sagte der Obmann von Zepf, „bei uns wird der Bürgermeister vom Volk gewählt.“ „Ja“, meinte der Töpfer, „aber erst, nachdem wir uns auf den geeigneten Kandidaten geeinigt haben.“ Minder sah zum Tisch von Bürgermeister Daniel Grüner hinüber und fragte sich, ob er den Fehler noch einmal machen würde.

„Fakt ist, dass die Deutschen in der Mitte geblieben sind“, resümierte Minder, „ein bisschen mehr schwarz oder rot macht keinen großen Unterschied.“ „Und was heißt das für uns?“, fragte Kipf. Die Bürgerlisten vertraten ihre Fraktionen, nicht irgendwelche Parteiideologien, über die nachzudenken die Flaneider weder die Zeit noch den Kopf hatten. Es waren Sammelparteien, nicht Programmparteien, im Zweifelsfall für das Gute und gegen das Böse, für Reichtum und gegen Armut, für den Kreisverkehr und gegen die Kreuzung. „Eigentlich nichts“, antwortete Minder. Mehr und mehr kamen sie drauf, dass Flaneid weder als Nabel der Welt noch als deren Spiegelbild taugte. Man fühlte mit Deutschland mit, seit es Fernsehempfang gab, aber politisch hatte man damit wenig zu tun.

„Aber eine Frage ist es schon, wen sich die Schwarzen oder die Roten mit ins Bett holen“, wandte der Töpfer ein. „Mir Wurst, Hauptsache nicht die Grünen“, lehnte sich Emil Harasser, als Vertreter der konventionellen Landwirtschaft ein natürlicher Feind der Umweltpartei, politisch weit aus dem Fenster. „Beruhig dich“, sagte Minder, „es kommt auch noch die FDP dazu, und die werden die Grünen schon entschärfen.“

„Hört endlich mit dem Politisieren auf!“, fuhr Wirt Coelestin Unterganzner dazwischen, als er die dritte Runde brachte, „hier geht es um den Standort Flaneid. Ihr solltet euch fragen, wie sich das Wahlergebnis auf das Urlaubsverhalten der Deutschen auswirkt: Kommen sie weiterhin zu uns? Wie kommen sie zu uns?“ „Deswegen brauchen wir eine rasche Regierungsbildung“, mahnte der Obmann von Zepf, „wenn die Deutschen daheim warten, wie’s ausgeht, dann seh’ ich schwarz für die Wintersaison.“ Harasser versuchte noch einmal, seinen Standpunkt in die Diskussion zu bringen: „Wenn die Grünen in die Regierung kommen, dann gibt es kein Benzin mehr, und die Deutschen schaffen es nicht bis hierher.“ Minder gab Entwarnung: „Das wird die FDP verhindern.“ „Aber die Grünen sind den Gelben nicht grün“, sagte der Kipfer, weil es ein schönes Wortspiel war. Aber Minder war sicher: „Die finden einen Weg zueinander. Gefahren wird nur mehr elektrisch, dafür kommt der Strom nur mehr von Kohlekraftwerken. Politik ist eben die Kunst der Kompromisse.“

Unterganzner hatte genug von dieser Gedankengymnastik: „Ich will konkrete Fragen beantwortet haben! Wer wird Kanzler? Und wo macht er Urlaub?“ „Woher sollen wir das wissen?“, wunderte sich Minder über die Frage. „Dann sitzt nicht hier herum“, schimpfte Unterganzner, der als größter Arbeitgeber einen gewissen Einfluss auf die Lokalpolitik hatte, „fahrt hinaus und hört euch um!“ „Äh, jetzt?“ „Ja, jetzt!“

Er drückte ihnen ein paar Hotelprospekte in die Hand. Die vier machten ratlose Augen. Kanzler konnte heutzutage jeder, Kanzler holen nicht.

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