Flaneid

Das Versteckspiel

Aus ff 44 vom Donnerstag, den 04. November 2021

Um das Geld zu mehren, wird der Standort gestärkt und beworben. Um keins zu verlieren, wird er gewechselt.

Als Bub hatte er das auch schon getan. Bürgermeister Daniel Grüner ging die ersten hundert Meter bei der Erntedankprozession mit und stahl sich dann in einen Hofeingang. Als Bürgermeister war es ihm bisher noch nicht gelungen, holländisch von dieser politisch zweitwichtigsten Prozession im Jahr zu verschwinden, aber mit der neuen Aufstellung ging das. Mit einem letzten Blick nahm er noch den Reporter des Flaneider Boten wahr, der jedes Jahr mit amtlicher Strenge festhielt, wer vom Gemeinderat fehlte und welche Großbauernsöhne den Himmel trugen. Heuer würden sich die Aufpasser harttun. Grüner grinste und verschwand in der Finsternis.

Dort war es gar nicht so finster. Hausherr Toni Steiger, Obmann der Obstgenossenschaft, wartete mit einer Flasche Weißwein und ein paar Gläsern. Auch andere Flaneider Bauern waren dort versammelt und dankten dem Herrn mit einem Prosit. „Wieso seid ihr hier?“, wunderte sich Grüner, „das ist doch eure Prozession!“ Die Bauern lächelten den Bürgermeister milde an, nur Steiger gab eine Erklärung ab: „Weißt du, wir wollten heuer nicht so ins Auge stechen. Über uns Bauern wird derzeit wieder einmal blöd geredet, Privilegien hin, Steuerbefreiung her, und jetzt geht es gerade um die Gis, die Immobiliensteuer. Jeder, der auf der Straße einen Bauern sieht, kann sich eine blöde Bemerkung nicht verkneifen.“

Coelestin Unterganzner stand andächtig vor seinem Gasthaus, als die Prozession vorbeizog, und schätzte ab, wie viele danach bei ihm einkehren würden. Diesmal war alles eigenartig, fand er. Der Gemeinderat ging nicht geschlossen hinter dem Himmel, sondern verstreut – und wahrscheinlich wieder nicht vollzählig – unter der Bevölkerung. Die Feuerwehrfahne ragte irgendwo von der Mitte des Zuges heraus, die Schützen gingen ganz hinten, wahrscheinlich, um Deserteure abzuhalten. Der Himmel wurde von vier Arbeitnehmern getragen, zwei Gemeindebeamte und zwei aus der Privatwirtschaft. Unterganzner sah, wie Pfarrer Elmar Kaslatter sich nicht wohlfühlte unter seinem eigenen Dach.

Der Wirt ging wieder ins Innere. Dort saß ganz allein Rosa Rechenmacher vom Gemeindeamt. „Nix Prozession?“, fragte Unterganzner. „Nein, ich bin fertig“, antwortete sie, „das halbe Dorf steht bei uns Schlange und will den Wohnsitz ummelden. Alles im gleichen Haus! Die eine zieht einen Stock nach unten, der andere nach oben, damit keine leere Zweitwohnung mehr übrigbleibt.“ „Um sich vor der angekündigten Steuererhöhung zu verstecken?“, folgerte Unterganzner. „Ja“, bestätigte sie, „obwohl ich als Amtsperson ja nichts unterstellen darf.“

Die Prozession war fertig, die müden Wanderer kehrten ein. „Bist du auch umgesiedelt?“, fragte Recyclinghofwärter und Himmelträger (links vorne) Fritz Abfalterer, der durch einen dreistöckigen Altbau erblich belastet war. „Meine Frau schon, schriftlich wenigstens“, antwortete der Gemeindearbeiter und Himmelträger von links hinten, „meinst du, die kommen kontrollieren?“

Das Thema im Gasthaus war natürlich nur eines: Die Angst vor den Langzeitfolgen des Eigentums. Manche, wie Kriegsveteran Viktor Tonner, verweigerten sich der Umsiedlung: „Ich bleib’, wo ich bin, und wenn einer kommt, brenn’ ich ihn nieder!“ Andere waren der Meinung, dass die Sache praktisch zu sehen sei und dass man eine Tochter oder einen Sohn in die leere Wohnung wenigstens hineinschreiben konnte. Die Frage entzweite ganze Familien, Haushalte wurden auseinandergerissen.

Die Kirche galt hier auch nicht als sicherer Wegweiser. Während Pfarrer Kaslatter fürs Dableiben optierte, hatte der Bischof zwei Amtssitze. Aber um ganz sicher zu gehen, näherte sich Kaslatter diskret Rosa Rechenmacher: „Der Himmel ist keine Kubatur, gell?“

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