Leserbriefe

Auf der Kippe

Aus ff 20 vom Donnerstag, den 17. Mai 2018

Langkofel
Die Hotellerie in Südtirol erlebt gerade einen Boom: „Mami, warum werden hier eines Tages große Hotels stehen statt weite Wiesen?“ © Alexander Alber
 

Immer mehr größere Hotels, immer mehr Gäste. Wo sind die Grenzen des Tourismus? In unserer Titelgeschichte in ff 14/18 haben wir die Problemzonen des Tourismus in Südtirol beschrieben.

Es war einmal eine zauberhafte Wiese, im Schatten des Conturines und des Sas Dlacia. Der Wald, die weiten Weiden, kleine Bächlein und ein paar Zirbelkiefern, alles war wie aus dem Bilderbuch.
Die Zirbelkiefern gibt es nicht mehr, und über die Wiese führt jetzt eine Asphaltstraße.
Der Hintergedanke dabei war klar: Ein paar Touristen mehr hier oben würden bestimmt nicht schaden; die Schönheit der Natur sollte endlich auch Rendite abwerfen. Eine kleine Erweiterungszone zum Beispiel würde schon nicht wehtun.
Im Namen einer „touristischen ­Optimierung” greifen wir in die Landschaft ein, ohne die langfristigen Bedürfnisse unserer Gesellschaft zu verstehen, ohne Vision. Vom touristischen Adrenalinschub berauscht, sind wir überzeugt, dass alles, was den Massentourismus fördert, nicht nur gut, sondern geradezu notwendig ist. Wir glauben, die ausgelaugten Tourismushochburgen Südtirols nur entlasten zu können, indem wir die Urlaubermassen stattdessen in die bislang noch schwach ausgelasteten Gebiete Südtirols umleiten.
Solche Ideen stammen von einzelnen, isolierten Interessengruppen und ignorieren die Heterogenität der lokalen Gesellschaft und ihre Bedürfnisse, weil sie auf einer falschen These beruhen. Der, dass „wir letztendlich doch alle vom Tourismus leben“.
In Sankt Kassian in Abtei gab es einmal einen wunderschönen Weg, der zum Tru di Lersc (Lärchenweg) gehörte und der von Rü am Hang über dem Dorf vorbei nach Rü Blanch führte. Der Herbst färbt diese Landschaft jedes Jahr in den leuchtendsten Orange-, Dunkelgelb- und Goldtönen – ein Anblick, der mir ­jedes Mal ans Herz greift. Das war einmal. Seit einem Jahr führt dort oben statt dem schmalen Fußweg eine zwei Meter breite Straße entlang.
Auf der anderen Talseite wiederholt sich die Geschichte, die herrliche Bergwiese wird nun von ­einer großen, weißen Straße durchquert, und der Wald weiter unten erlitt dasselbe Schicksal: von einer breiten Straße entzweit, breit genug, dass ein mit Baumstämmen beladener LKW problemlos durchfahren kann.
Der Optimierungswahn im Tourismus und auch in der Landwirtschaft spiegelt sich in der Landschaft wider. Aus kleinen Wegen werden breite Straßen – ist doch für alle bequemer, die asphaltiert – noch bequemer – und noch dazu an einer Jausen-Station enden.
Alte Bauten werden abgerissen und als neue Imitationen wieder aufgebaut. Historische Gasthäuser und Höfe werden zu Design-Hotels. Jeder soll seine Leistungskraft so gut und bequem wie möglich ausnutzen dürfen und können. Dabei aber nicht vergessen, dass die Faszination eines Ortes seine Landschaft und seine Geschichte sind, die nicht abgerissen und ad hoc wieder nachgebaut und schon gar nicht optimiert werden können.
Wenn ich an Entwicklung denke, dann denke ich an Fortschritt, der dem Gemeinwohl zugute kommt. ­Vision statt Kurzsichtigkeit – das erst macht aus einem großen einen erfolgreichen Unternehmer.
Vor lauter Gier, das große ­Potenzial Südtirols maximal auszunutzen, opfern wir unsere Heimat im Namen der Tourismusindustrie und der Bequemlichkeit. Unsere ökologischen Sünden werden wir aber bald vor allem ökonomisch büßen, sobald ­Faszination und Wiedererkennungswert vor lauter Optimierung dahin sein werden.
Und während ich darauf warte, dass die Welt endlich wieder zur Vernunft kommt, überlege ich, was ich meinem siebenjährigen Sohn antworten soll. Der hat mir eine Frage gestellt: „Mami, warum werden hier eines Tages große Hotels stehen statt weite Wiesen?“

Elide Mussner Pizzinini, St. Kassian

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