Leserbriefe

Das bunte Märchen

 

Schwule, Lesben, Trans­personen, ...: Wie offen Südtirol wirklich ist. Titelgeschichte in ff 25/26

Die Geschichte des jungen Transmanns hat mich erschüttert. Wenn ein Südtiroler Arzt sagt „Ziehen Sie die Hosen runter, lassen Sie mich schauen, das hat mich schon immer interessiert, wie ‚so eine Person‘ aussieht“, oder ein anderer eine Computer-Tomografie vom Kopf erzwingt, um zu checken, ob sich der Junge nicht alles „selbst einredet“, dann haben beide komplett den Beruf verfehlt.

Ich hoffe, der Transmann hatte die Kraft diese Personen zu melden oder gar anzuzeigen, so was darf in einem „zivilisierten Land“ nicht passieren. Ja, wir leben in einem Märchen und ich danke der ff, dass sie uns wachrüttelt. Bereits vor zwei Jahren hatte ich in der ff-Titelgeschichte erwähnt, dass der Hass größer geworden ist, und nun lese ich von weiteren Degradierungen.

Da ist es positiv, dass die Landesregierung und viele Südtiroler Unternehmen sich dem Pride Monat anschließen. Sicher ist es bei einigen ein reines „Toleranzwashing“, aber viele andere sehen es als Teil ihrer Unternehmenskultur und zeigen im wahrsten Sinne Flagge. Und ein ganzer Monat hat mehr Sichtbarkeit als irgendein internationaler Tag der Hoffnung.

Ich schätze sehr, dass das traditionsreiche Schloss Tirol auch zu diesem „bunten“ Teil der Südtiroler Geschichte und Gesellschaft steht. Und zwar nicht als Pflicht, sondern aus Überzeugung. Interessant wäre eine Ausstellung zur Verfolgung, Enthauptung und Verbrennung „Anders­denkender und Anderslebender“ im Spätmittelalter und frühen Neuzeit – auch in Südtirol.

Im Mittelalter scheinen auch einige Politiker á la Galateo oder Vertreter von unbedeutenden rechten Kleinstparteien zu leben. Diese müssen kaum Verantwortung für die neue Gewalt gegenüber queeren Menschen übernehmen, die sie möglicherweise selbst mit ihren Aussagen auslösen.

Die Straftat der Hassrede (istigazione all’odio) gilt nur für Rasse, Religion und Ethnie. Seit Jahrzehnten werden Gesetzesanpassungen blockiert und der Schutz und die Sicherheit von sexuellen Minderheiten erschwert. Die aktuelle Regierung hat sogar einige wenige Gesetze rückwirkend eingeschränkt. Es würde mich nicht mehr wundern, wenn Meloni meine Hochzeit nachträglich annulliert.

Laut Rainbow Europe Map gehört Italien zu den Schlusslichtern, gleichauf mit Georgien; sogar Kosovo und Bosnien scheinen weniger homophob zu sein. Warum gerade Italien (und damit Südtirol) hier so unterentwickelt ist, kann sich in den Ursachen der Homophobie finden: Diese ist eine Abwehr von Ängsten, auch vor der eigenen unterdrückten sexuellen Identität. Die Angst wächst, je geringer das Selbstwertgefühl des Menschen ist, je geringer die soziale Integration und die soziale Lage. Und da setzen die rechten Parteien an. Wenn Galateo in den Schulen der italienischen Sprachgruppe diese Kampagnen nicht mehr erlaubt, dann „entkultiviert“ er die eigene Sprachgruppe und darf sich nicht wundern, wenn sich diese dann noch mehr gegenüber der deutschen Sprachgruppe benachteiligt fühlt. Und dadurch noch mehr den lokalen Wahlen fernbleiben könnte.

Für den nächsten Pride Monat erhoffe ich mir auch eine „Vereinfachung“ oder klarere Erläuterung unserer bunten Welt. Beim langen Kürzel LGBTQIA+ kennen wir selbst gar nicht mehr die vollständige Bedeutung, geschweige denn die 90 Prozent der restlichen Bevölkerung. Und je komplexer und verwirrender wir uns geben, desto mehr Vorbehalte gibt es. Beim Thema Geschlechts­identität geht es um die Minderheit in der Minderheit und diese ist besonders schützenswert.

Wir sind bei „queeren“ Themen einen Schritt weiter, Schwule und Lesben sind angekommen und verstanden, die anderen noch nicht. Bei den Letzten liegt derzeit der Fokus, wenn diese aber von der Politik und den Medien zusammengewürfelt werden, ohne zu erklären, wie viele es sind und wo die Unterschiede liegen, dann gibt es mehr Verwirrung und dadurch weniger Offenheit. „Keep it simple“ – für alle.

Waldemar Kerschbaumer, Bozen, ehemaliger Präsident Centaurus und ehemaliges Teil des Consiglio ­Nazionale Arcigay

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